Die Ordnung der Dinge.

Alles läuft, bis einer stehen bleibt und fragt, warum.

Ich war nie ein Freund der großen Städte. Zu viel Beton. Zu viele Stimmen, die nichts sagen. Zu viele Gesichter ohne Namen. Mir ist das zu eng, obwohl alles riesig ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich am Rand eines Dorfs groß geworden bin. Unter alten Eichen. Hinter dem Hof lagen echte Hektar. Felder bis zum Horizont. Und zwischen der Einfahrt zu meinem Elternhaus und der nächsten Siedlung lag Wiese, lang wie ein Nachmittag im Sommer. Nachts war es so still, dass man die eigenen Gedanken gehen hörte. Später bin ich weggezogen. Natürlich nicht in die Stadt. Immer mit Abstand. Immer so weit von ihr entfernt, dass sie nur ein Lichtkranz am Himmel bleibt und sonst nichts. Ich brauche das einfach. Raum, in dem nichts so tut, als wäre es wichtig. Der Wind hat hier keine Meinung. Die Eichen auch nicht. Und manchmal denke ich, je dichter die Häuser beieinander stehen, desto leichter vergisst man, wer man ist. Vielleicht täusche ich mich auch. Aber weit weg von allen Dächern, sieht dich die Weite an und lügt nicht.

Nun gut. Aber auch das Dorf hat seine eigene Ordnung. Es sind nicht nur die alten Höfe und offenen Felder, nicht nur die langen Wege zwischen den Bäumen und der weite Himmel, der abends glüht. Es gibt auch diese Siedlungen, die man schon aus der Weite erkennt. Oftmals gleiche Dächer, gleiche Fassaden, gleiche Hecken. Häuser, die sich irgendwie gegenseitig im Blick behalten, ohne wirklich hinzusehen. Und überall riecht es gleich. Nach frisch gemähtem Rasen. Nach Grillkohle im Sommer. Nach Weichspüler, dessen Duft aus den geöffneten Fenstern zieht. Vor manchen Häusern steht ein SUV, glänzend, frisch gewaschen, fast schon irgendwie stolz. Andere verstecken ihre Autos in den Garagen, als hätten sie Angst, jemand könnte vergleichen, urteilen, als könne man nicht mit den Nachbarn mithalten. Ja, ich glaube schon, man kennt sich hier. Aber was man eigentlich meint, ist, man beobachtet sich.

Drinnen flimmert das Fernsehen, draußen brummt der Rasenmäher. Immer dieselben Geräusche, dieselben Rituale, als wäre der ganze Ort auf eine unsichtbare Uhr abgestimmt. Einer zündet den Grill an, zwei Gärten weiter antwortet ein anderer mit dem gleichen Zischen. Und irgendwo, am Ende der Straße, hängt eine kleine Fahne, ausgebleicht vom Wind. Aber noch immer da, obwohl niemand sie überhaupt noch wahrnimmt. Vielleicht, weil sie längst nichts mehr bedeutet. Hier, in diesem Siedlungen wohnt das Leben, das man führen soll. Ein Leben, das funktioniert. Geordnet, solide, frei von Überraschungen. Ein Leben, das man erst „erschafft“ und dann verteidigt. Man nennt es Beständigkeit. Aber vielleicht ist es auch Stillstand. Man arbeitet, spart, baut, pflegt. Man sorgt sich um den Rasen, um den Eindruck, um das, was Nachbarn vielleicht denken könnten. Man grüßt freundlich, lacht kurz, sagt, alles sei gut. Und wenn jemand doch mal stiller wird, fragt keiner warum. Man lässt es, weil man gelernt hat, dass man über sowas nicht spricht. Man fragt, wie es geht, und hofft, keine ehrliche Antwort zu bekommen. Alles funktioniert. Nur keiner weiß mehr, wofür.

Man heiratet. Man baut ein Haus. Zwei Kinder. Ein Hund. Im Sommer dann der Campingurlaub in Dänemark. Oder anders. Hauptsache weg. So macht man das hier. Und wenn all das geschafft ist, sagen alle: Gut gemacht. Als wäre das der Sinn gewesen. Als würde am Ende jemand kommen und eine unsichtbare Liste abhaken. Ich habe oft gesehen, wie Menschen ihr Leben einrichten, als wären sie Figuren in einem Schaubild. Wohnzimmer, Küche, Garten, Garage. Ordnung in allem. Nichts Unbekanntes. Morgens läuft das Radio, abends der Fernseher. Dazwischen liegen Termine, Rasenpflege, Autowäsche, Hecken schneiden. Manchmal glaube ich, das Geräusch des Lebens hier ist das leise Surren der Rolläden, wenn sie sich automatisch schließen. Immer zur selben Zeit. Jeden Tag.

Ich sehe oft diese Gesichter. Freundlich, aber irgendwie müde. Die Hände fest am Lenkrad, die Gedanken schon beim nächsten Einkauf. Ober beim Wochenende. Manchmal habe ich das Gefühl, die meisten haben gelernt, nicht zu fragen. Nicht nach dem Warum. Nicht nach dem Danach. Und ich glaube, ich selbst habe zu lange nicht gefragt. Die meisten nennen es Verantwortung, Pflicht, Stabilität. Oder einfach Erwachsensein. Doch oft ist es nur Angst, verkleidet als Vernunft. Die Angst, etwas zu verlieren, das man nie wirklich wollte. Die Angst, aufzufallen, wenn man plötzlich anders lebt. Die Angst davor, plötzlich der Böse in einer Geschichte zu sein. Und dann? Dann bleibt man lieber dort, wo man alle Regeln kennt. Wo man weiß, wie laut man lachen darf, wann man grüßt und wann man besser nichts sagt. Man bleibt, weil man glaubt, Sicherheit sei wichtiger als Wahrheit. Aber Sicherheit ist nur ein anderes Wort für Stillstand. Und Stillstand, das weiß jeder, der nachts einmal wach gelegen hat, fühlt sich irgendwann an wie Ersticken. Nur leiser.

Niemand will auffallen. Niemand will anders sein. Alles läuft. Oder muss laufen. Und vielleicht ist es genau dieses ewige Funktionieren, das was mich mehr und mehr stört. Diese saubere Wiederholung der Tage, als würde das Leben eine Routine verlangen. Man steht auf, arbeitet, redet, lächelt. Man baut, spart, bleibt immer irgendwie vernünftig. Und irgendwo dazwischen verliert man den eigenen Ton. Natürlich nicht auf einmal. Sondern leise. Schicht für Schicht. Ich habe auch lange geglaubt, das müsse so sein. Dass Sicherheit das Gleiche ist wie Frieden. Aber irgendwann begreift man, dass beides nichts miteinander zu tun hat. Sicherheit hält dich fest, Frieden lässt dich gehen.

Und vielleicht ist das der Moment, an dem man anfängt, zu hören, was man sich jahrelang ausgeredet hat. Dass man eigentlich etwas anderes wollte. Etwas, das nicht in diese Straßen passt, nicht in diese Häuser, nicht in diese Sprache. Aber dann kommen diese Sätze. Irgendjemand sagt: „Das gehört sich so.“ Irgendjemand meint. „Das macht man so.“ Sätze, die leicht gesagt werden, fast beiläufig, wie die Ausrede eines ganzen Lebens. Sätze, die klingen, als hätten sie Gewicht. Aber sie sind sie hohl. Nichts anderes. Man sagt sie, um nicht denken zu müssen. Um nicht zu fühlen, dass man längst aufgehört hat, zu leben. Aber es passt nun Mal nicht jeder in diese Ordnung. Nicht jeder findet Ruhe in der Wiederholung. Und das ist kein Fehler. Manchmal ist es einfach nur ehrlich.

Wir haben nur dieses eine Leben. Und alles, was wir nicht leben, bleibt. Es zieht Kreise, leise, unsichtbar. Alles was wir verdrängen, nicht tun, obwohl wir es wollen, wird zu Reue, zu Müdigkeit, zu diesem stillen Druck im Brustkorb, der sich meldet, wenn alles still geworden ist. Bleiben, obwohl man längst gehen will, ist auch eine Entscheidung. Aber sie kostet dich dich selbst. Und wenn du das irgendwann begreifst, ist es meist zu spät, um noch loszugehen. Vielleicht liegt das Glück nicht im Dazugehören, sondern im Mut, sich zu entfernen, zu gehen, abzuschließen. Nicht trotzig, nicht laut, nicht im Streit. Sondern einfach, weil man spürt, dass das hier nicht mehr das eigene Leben ist.

Draußen ist es still geworden. Ein paar Lichter, mehr nicht. Der Wind streift über die Felder, als wollte er die letzten Stimmen einsammeln, bevor die Nacht sie verschluckt. Irgendwo klappert ein Garagentor, irgendwo schließt sich eine Tür. Alles klingt nach Gewohnheit. Nach einem Leben, das einfach weiterläuft, egal wer hinsieht. Ich stehe am Fenster, sehe hinaus, sage nichts. In der Scheibe spiegelt sich mein Gesicht, dahinter ist alles dunkel, endlos. Für einen Moment scheint alles stillzustehen. Nur mein Atem. Der Klang der Tasse, als ich sie aufs Fensterbrett stelle. Vielleicht ist das der Punkt, an dem man begreift, dass man nicht jeden Platz ausfüllen muss, nur weil man ihn kennt. Nicht jede Geschichte zu Ende erzählen, nur weil man einmal Teil davon war. Ich sehe hinaus, bis das Bild verschwimmt. Und irgendwo dazwischen wird mir klar, dass ich kein Teil dieser Geschichte mehr bin. Vielleicht war ich es nie. Vielleicht hab ich nur zu lange geglaubt, dass man bleiben muss, um dazuzugehören. Draußen hebt der Wind an, trägt kalte Luft durchs offene Fenster. Und während alles weiterläuft, wird etwas in mir still. Nicht traurig, nicht verloren, nicht verletzt. Nur bereit.

Am Ende des Weges.

Was war, darf liegen bleiben.

Als ich losging, war alles dunkel. Die Sonne lag noch hinter dem Horizont. Die Bäume wirkten im fahlen Licht des Mondes wie Schatten. Mit jedem Schritt, den ich ging, wurde der Tag etwas heller. Der Morgen lag schwer über den Feldern. Nebel verfing sich in der Landschaft und zwischen den Ästen der Kiefern und Eichen. Fast so, als wolle er die Welt noch einen Moment lang verbergen. Montag. Einer dieser tristen Tage, an denen nichts neu beginnt und doch alles danach riecht. Die Straßen und Wege waren feucht. Die Luft kalt. Jeder Schritt klang, als würde ich über alte Erinnerungen laufen. Talko lief voraus, zog mal mehr, mal weniger an der Leine. Fast so, als wolle er mich daran erinnern, dass es weitergehen muss. Manchmal blieb er stehen, schnupperte, drehte sich kurz um. Ein paar Krähen zogen über uns hinweg, verschwanden im Grau. Ich denke an das, was sich über Jahre angesammelt hat. Worte, die ich nie ausgesprochen habe. Aufgaben, die ich immer wieder aufgeschoben habe. Gedanken, die wie Staub in den Ecken sitzen. Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem man das alles ablegen muss, um wieder klarzusehen. Ich glaube, heute ist dieser Punkt. Kein großes Versprechen. Kein klares Ziel. Nur der Entschluss, leichter zu werden. Ballast abzuwerfen, offene Kapitel zu schließen, Ungelöstes endlich zu Ende zu bringen und aufzuräumen, was mich festhält. 2026 beginnt bald. Und ich denke darüber nach. Hier. Auf diesem Weg. Mitten im Nebel. Leise. Ohne Ansage. Nur ein Schritt nach dem anderen.

Nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Es geht mir gut. Auch wenn sich das vielleicht anders liest. Ich bin nur müde. Nicht im Kopf, sondern im Kern. Jeder Anfang kostet Kraft. Und dieser frisst sich durch Schichten, die man jahrelang wachsen ließ. Er nimmt mir die Ausreden, die Bequemlichkeiten, das falsche Gefühl von Sicherheit. Veränderung ist kein romantischer Akt. Sie ist ein kalter Morgen, an dem du dich zwingst, weiterzugehen, obwohl alles in dir stehen bleiben will. Talko läuft neben mir, atmet schwer. Seine Pfoten hinterlassen Spuren im nassen Sand, und für einen Moment denke ich, dass alles genau so sein muss – anstrengend, aber echt. Jeder neue Anfang ist ein stiller Kampf. Gegen Müdigkeit, gegen Gewohnheit, gegen das eigene Abwarten. Der Wind frischt auf. Es riecht nach Erde, nach Holz, nach einem leisen Versprechen von etwas Neuem. Ich sehe zurück und erkenne, wie eng die Kreise geworden sind, in denen ich mich bewegt habe. Komfort, Routine, all das, was man mit Ruhe verwechselt. Doch jede Komfortzone ist am Ende nur ein Raum ohne Fenster. Ein Gefängnis. Nur mit dem Unterschied, dass man gar nicht merkt, wie man sich selbst einsperrt. Man bleibt, weil man glaubt, dass es draußen gefährlicher ist. Aber das ist die Lüge, die uns ruhig hält.

Es geht mir gut. Vielleicht besser als seit Langem. Schreibt man das so? Egal. Es geht mir gut, weil ich aufhöre, mich selbst zu beruhigen. Weil ich erkenne, dass der Preis der Freiheit immer das Ungewisse ist. Ich habe mich entschlossen, weiterzugehen. Langsam. Schritt für Schritt. Durch Nebel, Müdigkeit, Zweifel, durch Regen und Dunkelheit. Und wenn das Jahr zu Ende geht, will ich so leer sein, dass nur noch Platz bleibt für das, was wirklich zählt. Für das, was wirklich echt ist.

Manchmal braucht man eine Inventur. Denke ich. Ich meine nicht dieses Listenmachen oder Aufschreiben. Ich meine diesen einen ehrlichen Blick. Was schenkt mir Kraft, was frisst mich auf. Menschen, Routinen, Gedanken. Ich merke, wie vieles in mir längst Staub angesetzt hat. Wie viel davon ich weitertrage, weil es einfacher ist, als es loszulassen. Vielleicht beginnt alles mit Aufräumen. Nicht in der Wohnung, sondern im Kopf. Weg mit dem Überflüssigen. Den alten Nachrichten, den Stimmen, den falschen Sicherheiten. Vielleicht reicht manchmal schon Schweigen. Ein paar Tage nichts sagen, nichts senden, nichts rechtfertigen. Nur hören, was in einem übrig bleibt, wenn der Lärm im Außen leiser wird.

Ich denke auch an Social Media. Was für ein Quatsch, meistens jedenfalls. Eine digitale Welt, in der jeder redet, aber kaum jemand zuhört. An die Feeds, das endlose Scrollen, Gesichter, die man nicht kennt, Meinungen, die nichts bedeuten. Echt jetzt, ich muss nicht jedem folgen, der glaubt, etwas zu sagen zu haben. Und nicht jeder, der mir folgt, muss in meiner Liste bleiben. Das ist kein Verlust. Es ist Reinigung. Manche schauen ohnehin nur, weil sie neugierig sind. Sie wollen wissen, wie tief man vielleicht gefallen ist oder ob man sich wieder aufrappelt. Und dann reden sie darüber, statt zu fragen. Diese Art von Aufmerksamkeit hat kein Gewicht. Sie bleibt an der Oberfläche, wie Regen auf kaltem Asphalt, auf den auch keiner wirklich Bock hat. Ich will nichts mehr für Menschen tun, die nur sehen, aber nie wirklich hinschauen.

Ein Rückzug aus dem Dauerrauschen, das vorgibt, Verbindung zu sein. Ich will mir die Stille zurückholen. Den echten Blick. Die echten Menschen. Ich glaube, das ist der Punkt. Klärung. Herausfinden, was und wer mitkommen darf, wenn das Jahr endet und ein neues beginnt. Was bleibt, wenn alles andere verschwindet. Das, was ich dann in der Hand halte, ist mein Kompass. Und vielleicht ist das das Beste, nicht mehr funktionieren wie früher. Nicht mehr essen, schlafen, arbeiten, denken wie jemand, der sich selbst vergessen hat. Sondern neu werden. Von innen heraus. Und ich denke, man braucht dafür kein Ziel. Nur Rückgrat. Keine Analyse mehr, kein Warum. Nur anfangen, anders zu handeln. Leise. Konsequent. Und wenn es weh tut, dann ist das normal. Abschiede tun das. Sie reißen Löcher, durch die Licht fällt.

10 Km. Der Wind hat nachgelassen. Über den Feldern hängt der Nebel noch immer, aber er wirkt heller. Talko bleibt stehen, blickt nach vorn, dann zu mir. Für einen Moment ist alles ruhig. Kein Gedanke, kein Plan. Nur der Atem, das Knirschen unter den Schuhen, das leise Tropfen der Äste. Vielleicht ist das genug. Kein Anfang, kein Ende. Nur dieser Weg hier, jetzt, unter einem Himmel, der tut, als wüsste er nichts von uns.

Wenn das Licht ausgeht.

Dreht sich trotzdem alles weiter.

Draußen ist der Wind müde geworden. Ich bin es auch. Nur ab und zu zieht er noch einmal durch die Straßen, fegt ein paar Blätter über die Hofeinfahrten, rüttelt hier und da kurz an Regenrinnen, als wolle er sich vergewissern, dass die Welt noch da ist. Im Büro ist es warm. Zu warm vielleicht. Der Bildschirm flimmert, irgendwo tropft noch Wasser von der Jacke, die an einem Haken hängt. Ich starre auf das Postfach. Nichts, was wirklich zählt. Rechnungen, Newsletter, Spam. Der übliche Scheiß. Dann dieses kleine Geräusch. Eine neue Mail. Werbung. Eigentlich vollkommen uninteressant. Und doch bleibe ich an der Betreffzeile hängen: „Sind Sie bereit für den Jahresendspurt?“ Fick Dich. Ich lehne mich zurück. Denke an frischen Kaffee und darüber nach, ihn zu kochen. Ich sehe hinaus auf die grauen Dächer, den Himmel, der noch immer nach Sturm schmeckt. Als müsste man noch etwas beweisen, kurz bevor das Licht ausgeht. Jahresendspurt. Ätzend. Das heißt November, graue Tage, an denen man zu früh das Licht anmacht. Es heißt Dezember, überfüllte Parkplätze, Lichterketten in Fenstern, die Wärme nur spielen. Es heißt Familienbesuche, Fragen, die man nicht beantworten will, Gespräche, die man überhaupt nicht führen möchte, Menschen, die man nicht unbedingt sehen muss. Es heißt Lächeln, weil man soll, und Termine, die sich stapeln, als wäre das Jahr nicht schon schwer genug gewesen. Alle rennen, als gäbe es am Ende einen Preis. Ich nicht. Nicht dieses Jahr. Ich will keinen Endspurt. Kein Gedränge, kein künstliches Licht. Ich will, dass alles einfach langsamer wird. Vielleicht sogar still.

Das Smartphone liegt auf dem Tisch. Auf einem Buch. Schon bescheuert. Eigentlich hätte ich das Buch nehmen sollen. Papier. Gewicht. Eine Geschichte, die sich Zeit lässt. Heute greife ich nach dem Telefon. Vielleicht, weil es leichter ist. Weil ich bequemer bin. Oder weil wir irgendwann unbewusst gelernt hat, zuerst das zu nehmen, was leuchtet. Keine Ahnung. Ich entsperre den Bildschirm. Instagram. Irgendein Reel, das den Übergang von Halloween zu Weihnachten zeigt. Kürbisse, dann Schneeflocken, dann Glitzer. Im Text steht irgendwas von X-MAS. Ich bleibe kurz hängen, frage mich, wer das eigentlich erfunden hat. Diese Beschleunigung. Diese Zeit, die sich selbst frisst. Im Hintergrund klingt Mariah Carey, leise, aber trotzdem unerträglich. All I want for Christmas is you. Echt jetzt, fick Dich. Ich will gar nichts. Nicht mehr. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, das Telefon aus dem Fenster zu werfen. Runter auf die Straße. Unter einen der LKW. Vielleicht würde es klatschen, zerspringen, still werden. Ich stelle mir vor, wie ich mir dann ein altes Nokia 3310 besorge. Aber kein neues. Eines mit Kratzern, stumpfem Display, das beim Einschalten dieses eine Geräusch macht. Eins wie damals, als die Welt irgendwie noch kleiner war. Und trotzdem irgendwie größer. Man konnte einfach verschwinden. Ohne Erklärung. Niemand schrieb einem hinterher. Niemand interessierte sich für die Stunden, in denen man nicht online war. Advent. Weihnachten. Echt jetzt, ich hab das mal gemocht. Dieses langsame Näherkommen, den Geruch von Tannennadeln, Kerzenwachs, das Rascheln von Geschenkpapier, die Vorfreude. Das ist schon letztes Jahr gestorben. Heute riecht alles nach Parfüm und Plastik. Nach Erwartung. Nach etwas, das glänzen will. Früher war das Licht warm. Heute ist es grell. Und das, was einmal verloren geht, kommt nicht zurück. Manchmal denke ich, vielleicht ist das gut so. Vielleicht muss nicht alles wiederkommen. Vielleicht reicht es, zu wissen, dass es einmal da war.

Manchmal denke ich, man könnte das Jahr einfach schon im Oktober beenden. Nicht offiziell natürlich. Nur für sich. Kein Rückzug, eher eine Entscheidung. Ein stilles Ende, bevor der ganze Zirkus aus Licht und Lärm wieder anfängt, die Stille zu fressen. Wenn der Wind durch die Straßen zieht und die Tage kürzer werden, so wie jetzt, wäre das der richtige Moment. Einfach sagen: Fick dich. Es reicht. Ein Weihnachtsmarkt vielleicht. Wenn es passt. Aber kein Weihnachten. Kein Silvester. Keine Raketen, die den Himmel anlügen. Nur Dunkelheit. Regen. Ein Feuer vielleicht. Und dieses beruhigende Wissen, dass die Welt sich auch ohne einen weiterdreht. Ich könnte das Telefon ausschalten. Für Wochen. Kein Instagram. Keine Nachrichten. Kein WhatsApp. Kein ständiges Flackern, das vorgibt, Wichtig zu sein. Nur Ruhe. Vielleicht ein altes Buch, das nach Staub riecht. Musik, die ein bisschen kratzt. Kaffee, der bitter ist und zu schnell kalt wird. Ich würde die Tage ziehen lassen, wie Wasser über Steine. Nichts posten. Nichts teilen. Nichts erklären. Einfach verschwinden. Unter einem Stein leben, irgendwo zwischen den Monaten, dort, wo Zeit einfach vergeht.

Weihnachten würde vorbeigehen. Ohne mich. Kein Geschenkpapier. Kein künstlicher Schnee. Keine Mariah Carey aus Lautsprechern in Supermärkten. Nur das leise Brennen einer Kerze, die niemand anzündet, weil niemand da ist, außer mir. Ich denke an die Gesichter an den Tischen, an Gespräche, die nichts sagen, an das ewige Lächeln, das man sich gegenseitig schuldig ist. Ich hab das früher gemocht. Echt jetzt. Diese Wärme. Das Licht. Den Geruch von Mandeln und Wachs. Aber irgendwann ist etwas gestorben. In mir. Vielleicht letztes Jahr. Vielleicht schon früher. Vielleicht war es nie echt. Vielleicht war das Alles nur eine Geschichte, die ich mir selbst erzählt habe, damit der Winter nicht zu lang wird. Ich könnte einfach gehen. Offline. In eine selbstgewählte Stille. Ohne Wünsche. Ohne Rückblicke. Ohne Pläne für das, was kommen soll. Nur Dunkelheit, die sich über alles legt. Und irgendwann, Ende Januar vielleicht, oder Ende Februar, einfach wieder auftauchen. Als wäre nichts gewesen. Als hätte ich das Jahr nur ein wenig früher beendet und später begonnen als alle anderen.

Ich hab mir Kaffee gekocht und schaue wieder aus dem Fenster. Vielleicht würde niemand es merken. Vielleicht schon. Die Welt hat ein kurzes Gedächtnis. Ein paar Tage, dann zieht alles weiter. Der Wind, die Menschen, selbst die eigenen Gedanken. Man verschwindet nicht mit einem Knall, sondern leise, im Rauschen der alltäglichen Geräusche. Vielleicht liegt dann Staub auf dem Schreibtisch. Vielleicht läuft irgendwo noch eine ungelesene Mail ein. Alles bleibt in Bewegung. Egal, ob man da ist oder nicht. Da draußen wird der Wind weiterziehen, als wäre nichts gewesen. Und wahrscheinlich hat er recht.

Der Schimmelreiter.

Und die Jahre atmen.

Der Sturm flüstert seine eigene Geschichte. Der Regen spielt die Melodie dazu. Es ist einer dieser Morgen, an denen die Welt scheint, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Das Wasser fällt schräg. Gepeitscht vom Wind, der durch die engen Gassen fährt und das Laub aufwirbelt. Es scheint fast so, als wolle er endlich Ordnung schaffen in einem Herbst, der längst beschlossen hat, zu vergehen. Am Rande des Dorfes stehen Eichen. Schwer. Schwarz. Ihre Blätter klammern sich an die Äste wie müde Gedanken, die nicht loslassen können. Über den Dächern hängt der Himmel tief. Fast aufdringlich. Eine schwarzgraue Fläche ohne Anfang und ohne Ende. Ein Rinnsal zieht sich am Bordstein entlang, trägt vergilbtes Laub mit sich, wie kleine Boote, die schon lange keinen Hafen mehr suchen. Aus den Schornsteinen steigt Rauch, dünn und unentschlossen. Er vermischt sich mit dem Regen und verschwindet im Wind. Irgendwo fährt ein Auto über die nasse Straße. Irgendwo bellt ein Hund. Und trotzdem liegt in all dem eine seltsame Ruhe. Eine, die nicht tröstet, aber auch nichts erwartet. Nur dieses leise Wissen, dass der Tag kommen wird, ob man will oder nicht. Er wird sich durchkämpfen. Durch den Regen. Durch das Grau. Durch alles, was schwer ist. Und vielleicht, später, wenn der Wind sich gelegt hat, wird irgendwo zwischen den kahlen Zweigen, die wie knochige, sterbende Finger in den Himmel ragen, ein Stück Licht zu sehen sein. Blass. Fast farblos. Aber echt.

Hier, am Fenster, klingt der Sturm gedämpft. Fast wie ein fernes Meer. Der Regen prasselt gegen die Scheibe. Er zieht Spuren aus Licht und Wasser, die hier und da ineinander verlaufen. Auf der Fensterbank sehe ich Staub, den der Wind nicht erreichen kann. Alles hier ist still. Man hört nur das Knistern der Kerze, den Atem der Wohnung. Auf dem Tisch steht eine Tasse, leer, ausgetrunken, darauf wartend, wieder gefüllt zu werden. Der Geruch hängt aber noch in der Luft. Alles wirkt noch schwer von Nacht und Ruhe. Eine Uhr tickt. Talko gähnt und streckt sich. Die Heizung müsste wieder entlüftet werden. Die Deckenlampe ist aus, das Licht der Stehlampe weich und warm. Es tastet sich an den Vorhängen entlang, findet Wände, Ecken und das Buch, dass schon offen vor mir auf dem Tisch liegt. Es ist die Geschichte von Hauke Haien. Der Schimmelreiter. Ich lese sie jedes Jahr, wenn der Wind an den Fenstern rüttelt und die Menschen lieber zu Hause bleiben. Vielleicht, weil in dieser Geschichte etwas vom Norden steckt, das ich verstehe. Das Dunkel. Die Weite. Die Sturheit der Menschen, die sich dem Meer entgegenstellen und wissen, dass sie diesen Kampf am Ende doch nie gewinnen können. Eigentlich kenne ich jede Zeile. Trotzdem lese ich sie wieder, so, als könnte die Geschichte dieses Mal anders ausgehen. Aber das wird sie nicht. Talko hebt kurz den Kopf, lauscht, legt ihn wieder auf die Pfoten. Die Flamme einer Kerze flackert, als hätte sie Angst, und ich denke an Hauke, wie er durch die Nacht reitet, durch Wind und Gischt, allein mit seinem Schimmel und der Schuld, die ihn begleitet. Es gibt Geschichten, die bleiben, egal, wie viele Jahre vergehen. Und jedes Mal, wenn ich sie lese, spüre ich, wie etwas in mir still wird. Vielleicht, weil auch ich die Welt manchmal nur vom Rand her begreife. Dort, wo das Licht endet und die Dunkelheit beginnt.

Ich weiß noch genau, wie ich das Buch zum ersten Mal las. Es war auch im Oktober. Das Wetter nicht anders als heute. Wind. Regen. Dieses schwere Grau. Ich saß neben Sebastian. Er war ein wenig älter als ich. Herr Mosenhauer hatte uns das Buch „Der Schimmelreiter“ verordnet. Pflichtlektüre. Jeder musste es lesen. In der Klasse verdrehten alle die Augen. Man stöhnte über die Sprache. Zu alt. Zu zäh. Zu weit weg von allem, was ihnen damals wichtig schien. Aber ich nicht. Während sie über die Sätze lachten, über das viele Grau und den Wind, der scheinbar nie endete, tauchte ich ein. Ganz tief. Ein, in diese raue, wortkarge Landschaft, in der Menschen und Meer denselben Atem hatten. Ein, in ein Leben, gezeichnet von Stürmen, getragen von einer Stille, die tiefer ging als jedes Geräusch. Ich verstand nicht alles, das will ich wohl zugeben. Aber ich spürte, dass mir diese Welt näher war als die, in der ich saß. Neonlicht. Hefte. Der Geruch von Kreide und feuchten Jacken. Etwas in diesen Sätzen hielt mich fest. Nicht nur die Handlung. Auch der Ton. Als hätte jemand die Zeit in Worte gegossen und mir gesagt, dass es so klingt, wenn die Welt den Atem anhält.

Und nun ist das ein Vierteljahrhundert her. Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht. Und wie still sie das tut. Man merkt es erst, wenn man begreift, dass ein Tag nie einfach nur ein Tag ist, sondern immer auch einer weniger. Die meisten meiner damaligen Klassenkameraden habe ich nie wieder gesehen. Manche sind weggezogen, manche einfach verschwunden. Einige sind leider schon gestorben. Und auch Herr Mosenhauer weilt bedauerlicher Weise längst nicht mehr unter den Lebenden. Am Ende ist irgendwie nur das Buch geblieben. Und jedes Jahr im Oktober, wenn einer der Herbststürme über die Dächer zieht, der Himmel tief hängt und der Tag nicht zu wissen scheint, ob er schon endet oder gar nicht erst beginnen will, krame ich es aus dem Schrank hervor. Ich setze mich gemütlich hin und während der Wind an den Scheiben kratzt, tauche ich wieder ein, in diese Welt aus Deich und Nebel, aus Pflicht und Schuld, aus Mensch und Meer. In diese Sprache, die mir uralt erscheint und trotzdem nicht vergeht. Es ist jedes Mal dasselbe Gefühl. Vertraut. Still. Auch ein wenig schmerzhaft. Und irgendwann, zwischen den Seiten, merke ich, jedes Mal, dass es längst mehr ist als nur eine Geschichte. Es ist mein Buch geworden. Mein Lieblingsbuch. Ein Stück Leben, das immer bleibt, selbst wenn alles andere vergeht.

Der nächste Schritt.

Manchmal reicht es, weiterzugehen.

Das Licht war grell, selbst hinter geschlossenen Lidern. Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Wir schreiben das Jahr 1981. Ich war ein paar Stunden alt. Ein altes Krankenhaus, irgendwann um 1870 gebaut, zwischendurch wohl modernisiert. Dreißig Kilometer von meinen Eltern entfernt. Die Luft roch wahrscheinlich nach Metall und Desinfektion. Irgendwo summte ein Gerät, ungeduldig, als hätte es etwas vergessen. Niemand sprach meinen Namen. Ich lag da, winzig, zwischen Kabeln und kaltem Glas, und wusste nichts von der Welt, die draußen auf mich wartete. Später erzählten sie mir, man hätte geglaubt, ich würde es nicht schaffen. Vielleicht hatte ich es damals schon verstanden: dass man sich von Anfang an nicht sicher sein kann, ob man bleiben darf. Und dass man vieles einfach allein machen muss.

Der Morgen kam ohne Farbe. Ein Tag ohne Richtung. Über den Feldern hing Nebel, so dicht, dass die Bäume am Horizont nur schemenhaft zu sehen waren. Auf dem Dach eines alten Hofes saßen Krähen, schwarz gegen Grau. Bewegungslos. Reglos. Der Wind kam aus Westen und trug feine Tropfen mit sich. Kaum spürbar, aber kalt genug, um durch die Jacke zu kriechen. Auf den Straßen lag Laub, flach gedrückt, glänzend vom Regen. Ein in die Jahre gekommener Lieferwagen fuhr vorbei, das Licht seiner Scheinwerfer flackerte im Dunst. Und irgendwie erkannte ich mich darin. Hinter den Weiden zog sich ein schmaler Pfad den Hang hinauf. Dort wuchs Farn, längst braun geworden. Dazwischen lagen moosigen Steine. An manchen Stellen feucht und glatt wie junge Haut. Der Bach neben dem Weg hatte das Wasser der vergangenen Tage aufgenommen. Er floss schnell, trug kleine Äste mit, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte. Vom Dorf her roch es nach Holzrauch. Aus einem Schornstein stieg eine dünne Fahne auf und verlor sich einfach im einheitlichen Grau. Weiter hinten ging eine ältere Frau mit einem Eimer über den Hof. Gleich daneben bellte ein Hund. Einmal. Zweimal. Seine Pfoten würden Spuren im Matsch hinterlassen, dachte ich mir. Obwohl alles in Bewegung war, gab es hier keine Eile. Herbst. Die Zeit hatte einen langsameren Gang angenommen. Die Welt war leiser geworden. Und selbst die Gedanken begannen zu flüstern.

Ich ging weiter den Weg hinauf. Dorthin, wo der Nebel dichter wurde. Unter den Schuhen knirschten kleine Steine. Hier roch der Wind nach Erde. Nach Holz. Nach etwas Altem, das langsam vergeht. Ich blieb kurz stehen, hörte dem Bach zu. Er klang, als würde er Geschichten erzählen, die niemand mehr kennt. Vielleicht war das der Grund, warum ich hier war, weil es manchmal Orte gibt, an denen man sich selbst leiser hört. Am Waldrand lag ein umgestürzter Baum. Wahrscheinlich von einem der längst vergessenen Stürme. Das Moos hatte seine Rinde fast ganz verschluckt. Ich legte die Hand darauf. Kalt. Feucht. Und für einen Moment dachte ich an all das, was bleibt, wenn etwas endet. Und daran, wie oft man glaubt, etwas sei vorbei, obwohl es einfach nur still geworden ist.

Ich blieb länger stehen, als ich eigentlich wollte. Der feine Regen hatte nachgelassen. Nur das Tropfen von den Ästen blieb. Ich glaubte, in der Ferne einen Zug zu hören. Ein Klang gedämpft durch die Hügel. Und für einen Moment dachte ich daran, wie es wäre, einfach weiterzugehen, immer weiter, bis der Nebel sich lichtete oder ich irgendwo ankam, wo mich niemand kannte. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Vielleicht die Müdigkeit. Vielleicht die Gewohnheit, zurückzugehen, statt weiterzugehen. Ich zog die Hand von dem Stamm, wischte sie an der Hose ab und ging doch noch ein Stück weiter. Der Weg führte zwischen alten Buchen hindurch, deren Wurzeln wie Adern über den Boden liefen. Am Ende des Weges lag eine Lichtung. Kein besonderes Stück Land. Eigentlich nur Gras, ein paar Steine, eine Bank. Nichts, was wirklich erwähnenswert wäre. Und doch blieb ich, so wie jedes Mal, wenn ich hier vorbeikam. Es war still. Auf eine Art, die schwer zu beschreiben ist. Keine Leere, eher ein Gleichgewicht. Ich setzte mich, spürte das kalte Holz im Rücken und dachte an nichts Bestimmtes. Vielleicht war das der Grund, warum ich herkam. Weil dieser Ort die Dinge so ließ, wie sie waren. Ohne sie zu deuten. Ohne sie zu heilen. Ohne etwas zu erwarten.

Ich dachte an ihn. An diesen alten Mann, den es schon lange nicht mehr gibt. Ich war noch klein. Schwach. Oft allein. Er saß in seiner Küche. Auf dem Stuhl neben der alten Kochmaschine, die mit Torf geheizt wurde. Der Rauch zog langsam durch den Raum und mischte sich mit dem Geruch seiner Zigaretten. Er sprach mit mir, als wäre ich längst erwachsen, und erzählte Geschichten, die wohl nicht für Kinderohren bestimmt waren. Vom Krieg. Vom Hunger. Vom Warten. Er sagte einmal, Schmerz vergehe, wenn man ihm genug Zeit lässt. Und dass jede Dunkelheit irgendwann nachlässt, auch wenn sie sich nie ganz vertreiben lässt. Und einmal sah er mich an, blies den Rauch zur Seite und sagte: Torsten, das Einzige, was wirklich zählt, ist der nächste Schritt.

Ich habe den Satz nie vergessen. Manchmal denke ich, vielleicht hatte er recht. Vielleicht ist das alles, was man tun kann. Den nächsten Schritt gehen. Egal wohin.

Kein Lärm mehr.

Freiheit klingt anders, wenn man sie endlich hört.

Der Herbst verschluckt die Tage. Schwere Wolken hängen über den Dächern der Vorstadtsiedlung. Dunkel, wie nasse Steine. Der Regen hält sich seit Stunden. Er peitscht gegen die Scheiben, zieht feine Linien auf Glas. Ungeachtet dessen fährt der Wind durch die Straßen. Er peitscht gegen die Fenster, zerreißt die feinen Linien, trägt Blätter von den Bäumen und schleift sie mit sich. Das Licht hat längst verloren. Ein müder Rest davon klebt an den Fenstern wie vergessene Gedanken. In der Wohnung ist es still. Nur die Spülmaschine arbeitet in einem fast gleichmäßigen Takt. Auf dem Schreibtisch steht eine Tasse Kaffee, halb getrunken, und achte ich nicht darauf, wird sie kalt. Der Dampf ist längst verschwunden. Draußen tobt der Sturm, aber hier herrscht eine andere Art von Lautlosigkeit. Jene, die bleibt, wenn man erkennt, dass nichts mehr erklärt werden muss.

Immer wieder ziehen Menschen sich zurück. Nicht fluchtartig. Still. Ohne dass man es bemerkt. Vielleicht nach einer Trennung. Vielleicht, weil alles zu laut geworden ist. Dann steht eine Wohnung leer, als hätte sie den Atem angehalten. Auf dem Fensterbrett stehen Blumen, längst nicht mehr gegossen. Das Licht des Abends schleicht über den Boden, golden, aber müde. Der Regen bleibt. Er prasselt auf das Dach, so gleichmäßig, dass er jedes Denken übertönt. Drinnen riecht es nach Staub, nach nasser Luft. Irgendwo tropft ein Wasserhahn, als wolle er die Zeit zählen. Das sind die Momente, in denen Stille schwer wird. Sie legt sich auf die Schultern. Auf das Herz. Auf jeden Gedanken, der ums Überleben kämpft. Und man merkt, dass es kein Lärm von draußen war, vor dem man weglief, sondern der eigene.

Ich glaube, ich habe das alles erst verstanden, als wirklich alles still wurde. Da war kein Gespräch mehr. Kein Lärm. Kein Hintergrundrauschen. Da war nichts mehr, an dem man sich festhalten konnte. Es gab nur das leise Summen des Kühlschranks, das sich wie eine ferne Erinnerung in den Raum legte und der feine Takt der Spülmaschine, die alles reinigen wollte. Wie gesagt, draußen fiel Regen gegen das Fenster. Gleichmäßig. Irgendwie geduldig. Da waren die Tropfen, die an der Scheibe hinab liefen und Spuren hinterließen, die sich im Wind wieder verloren. Ich saß auf dem Boden, die Beine angewinkelt, den Rücken an die Wand gelehnt. Neben mir die Tasse, der Kaffee wieder mal kalt. Der Geruch davon hing aber noch in der Luft. Es war, als hätte die Zeit selbst beschlossen, stehenzubleiben.

Es war so still. So wirklich still. Und zum ersten Mal war da keine Stimme mehr, die mir sagte, wer ich sein soll. Kein Blick, der etwas erwartete. Kein Kalender der von Terminen und Pflichten zu berichten wusste. Nur ich. Naja, und dieses unruhige Echo meiner eigenen Gedanken. Wie lange hatte ich eigentlich geglaubt, Freiheit würde bedeuten, alles tun zu können, was man will. Reisen. Entscheidungen treffen. Essen gehen. Grenzen sprengen. Aber die Wahrheit sah anders aus. Ich war längst zu meinem eigenen Wärter geworden. Ich hatte so oft versucht, gesehen zu werden. Nicht verstanden. Und das ist ein Unterschied.

Ich war gewesen, wie man es erwartet zu sein. Vielleicht erfolgreich. Aber angepasst. Ich hatte gelernt, zu lächeln, auch wenn mir nicht danach war. Ich wusste, was man sagen muss, um gemocht zu werden. Ich konnte Menschen überzeugen, selbst dann, wenn ich innerlich längst gegangen war. Und jedes Mal, wenn jemand nickte, zustimmte oder mich lobte, fühlte es sich an wie ein kleiner Sieg. Dabei war es nur eine neue Kette, feiner geschmiedet als die letzte. Fast schon unsichtbar. Aber dann kam der Punkt, dieser eine, der alles irgendwie verändert, ohne dass man es merkt. Dieser Punkt, an dem dich niemand sieht. Niemand fragt. Niemand zuhört, weil du aufgehört hast zu reden. Und dann, an dem Punkt, als niemand mehr hinsah, merkte ich, wie leer das alles war. Wie sehr ich mich selbst verloren hatte, irgendwo zwischen Erwartungen, Urteilen und all den gut gemeinten Ratschlägen, die man „Leben“ nennt. Ich dachte an Gesichter, an Namen, an Abende, an denen ich mich verstellte, um dazuzugehören. Und ich fragte mich, warum. Warum ich all das tat, obwohl keiner dieser Menschen bleiben würde. Sie würden morgen weitermachen, und ich würde zurückbleiben. Ein Schatten in meinem eigenen Leben. Eine Mensch in der zweiten Reihe. Vielleicht in der dritten. Der Vierten. Der fünften.

Also ließ ich los. Nicht sofort. Nicht laut. Stück für Stück, wie jemand, der sich aus einem Netz löst, das er selbst geknüpft hat. Oh mein Gott ja, es tat weh. Beschissen weh. Aber es war notwendig. Es war garantiert kein heroischer Moment. Kein Neubeginn mit Fahnen und Fanfare. Nur das leise Begreifen, dass ich niemandem mehr gefallen muss. Dass ich still sein darf. Unauffällig. Aber endlich echt.

Hand aufs Herz? Am Anfang sah diese Leere, erst aus wie ein Verlust. Aber dann begann etwas zu atmen. Leise. Vorsichtig. Und ich dachte so bei mir, vielleicht ist genau das Freiheit. Nicht das große Wort, das man auf T-Shirts druckt oder in Reden zitiert. Sondern dieses kleine, unscheinbare Gefühl, das kommt, wenn du am Fenster sitzt, in den Regen schaust und begreifst, dass du niemandem mehr etwas erklären musst.

Die Nacht hat dem Tag das Leben genommen. Draußen hat der Regen nachgelassen. Nur das Tropfen von den Dachrinnen bleibt. Ich sitze noch immer da. Irgendwo in der halbdunklen Wohnung. Ein Rückzug ist kein Ende. Er ist nur ein anderer Weg, weiterzumachen. Vielleicht sogar der ehrlichste. Veränderungen? Sie passieren nur selten laut. Meistens beginnen sie leise, und zwar immer an dem Punkt, an dem man aufhört, sich zu erklären und einfach weitergeht. Ich glaube, ich habe aufgehört zu kämpfen. Nicht aus Resignation, sondern weil ich verstanden habe, dass Aufgeben manchmal das Einzige ist, was dich rettet. Dass man nicht verliert, wenn man loslässt, sondern nur das abgibt, was nie wirklich zu einem gehörte. Ich stehe auf, gehe durch die Haustür ins Freie. Draußen glitzert der Asphalt, das Licht der Straßenlaternen bricht sich in den Pfützen. Es ist still. Und für einen Moment fühlt sich alles richtig an. Nicht schön. Nicht leicht. Nur richtig. Und ich merke, es macht etwas mit einem, wenn die Luft klar ist und der Raum in dem man sich befindet, grenzenlos.

Vom Sterben der Dinge.

Wir verglühen, ohne es zu merken.

Es tickt… Irgendwo, während ich am Fenster sitze. Draußen fast nur Stille. Der Himmel hängt schwer über allem. Es ist einer dieser Tage, an denen die Welt so ruhig scheint, dass man das eigene Atmen hört. Der Dampf meiner Tasse verliert sich. Langsam. Das Licht ist gedämpft. Der Wind hat aufgehört, selbst die Bäume wirken, als würden sie meinen Gedanken zuhören. Vielleicht gibt es immer wieder diese Momente, in denen ich begreife, dass das Universum gar nicht da draußen ist, sondern hier. Überall. Um uns herum. In uns. In jeder Zelle. In jedem Atemzug. In jedem Gedanken, der kurz aufflackert und wieder vergeht. Und wenn ich diesen Gedanken Raum gebe, verstehe ich mehr und mehr, was es bedeutet, nicht getrennt von all dem, sondern ein Teil von allem zu sein. Und doch verhalten wir Menschen uns oft so, als stünden wir außerhalb. Als könnten wir das Leben beobachten, statt es wirklich zu leben, statt es zu sein. Draußen gehen Menschen vorbei. Sie folgen ihrem Weg, blicken weder nach rechts noch nach links. Einer schaut auf die Uhr, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und alle gehen ein wenig schneller. Wir hetzen, als wäre Zeit ein Gegner, und vergessen, dass sie unser Blut ist. Währenddessen bewegt sich das Universum, dessen Teil wir sind und immer waren, in einer Gelassenheit, die wir verlernt haben. Sterne verglühen, Planeten kreisen, Lichtjahre vergehen und alles bleibt in Ordnung. Kein Lärm. Keine Eile. Nur das leise Ticken der Ewigkeit. Und wir? Wir füllen Kalender, als ließe sich Sinn addieren. Wir zählen Minuten, als wären sie etwas wert. Vielleicht liegt genau darin unser Fehler. Draußen läuft alles im eigenen Takt, drinnen überschlagen sich die Gedanken. Erinnerungen, die man nicht mehr ändern kann. Ich frage mich, wann wir schneller wurden als das Leben selbst. Vielleicht in dem Moment, als wir Angst bekamen, es zu verlieren. Doch das Universum kennt keine Angst. Es geschieht. Es lässt geschehen. Und ich sitze hier, immer noch im gleichen stillen Licht, während draußen alles ruht und trotzdem weitergeht. Vielleicht ist das der wahre Abstand zwischen uns und dem Rest des Seins, nicht Raum, nicht Zeit, sondern die Unfähigkeit, einfach still zu sein.

Der Tag ist müde geworden. So wie jemand, der zu lange wach war. Ich sitze immer noch am Fenster. Auf dem Fensterbrett die Tasse. Längst kalt. Irgendwo das Ticken. Die Sekunden tropfen gleichmäßig. Aber irgendwie ohne Bedeutung. Und doch spüre ich dieses Drängen unter der Haut. Kein Schmerz. Eher ein Ziehen. So, als wollte etwas wachsen, das keinen Platz findet. Ein leises Flüstern, das mir sagt, dass ich nichts ändern muss, aber will. Nicht weil das Leben schlecht ist. Sondern weil etwas fehlt. Ein Ton, der nicht mehr klingt. Ein Atemzug, der stockt. Ich schaue durch das Fenster in den wolkenverhangenen Himmel, der langsam die Farbe der Nacht annimmt. Vielleicht ist das Universum wirklich voller Frieden. Aber selbst in diesem Frieden bewegt sich alles. Sterne kollabieren, Pflanzen brechen durch Beton. Selbst der Staub auf dem Fensterbrett verändert sich, während ich ihn ansehe. Alles dehnt sich, schiebt sich nach außen, unmerklich und doch unaufhaltsam. Alles wächst immer von innen nach außen. Leise, aber trotzdem. Es gibt keine andere Art von natürlichem Wachstum. Es geht nur von innen nach außen. Zuerst war da ein Puls. Ein Gedanke. Ein Herzschlag. Immer. Unbeirrbar. Und vielleicht ist das, was wir Unruhe nennen, nur das Echo dieses Wachstums. Ein Zeichen, dass wir leben. Ich schaue auf die Straße, sehe die Laternen angehen, eine nach der anderen. Drinnen flackert das Licht, draußen zieht die Nacht auf. Und irgendwo, zwischen dem, was bleibt und dem, was vergeht, verstehe ich kurz, dass das Universum nicht ruht, sondern atmet. So wie ich. Nur gleichmäßiger.

Ich schaue in das Fensterglas, das mehr spiegelt als zeigt. Draußen ist es längst Nacht geworden. Mein Gesicht überlagert sich mit der Dunkelheit, als wäre ich beides – das, was ich sehe, und das, was mich ansieht. Es gibt einen Moment, in dem ich denke, dass Veränderung vielleicht genau hier beginnt: in diesem stillen Blick, der nichts beschönigt. Man kann nicht ewig derselbe bleiben. Die Dinge verändern sich, ob man will oder nicht. Alles wächst von innen nach außen – Bäume, Wunden, Gedanken, selbst das Licht. Nur wir Menschen versuchen, dagegenzuhalten, aus Angst, uns zu verlieren. Aber vielleicht verliert man sich nicht. Vielleicht findet man sich erst, wenn man aufhört, festzuhalten. Ich weiß, dass ich mich verändern muss. Nicht für andere, nicht, weil etwas fehlt, sondern weil in mir etwas drängt, das nicht länger in mir bleiben will. Etwas, das hinaus will in die Welt, egal, ob sie zuhört oder nicht. Veränderung ist kein Entschluss, sie ist ein Zustand, der schon begonnen hat, bevor man ihn bemerkt. Ich spüre sie jetzt – irgendwo tief unter der Haut, wo alles Leben anfängt. Leise, aber unaufhaltsam. Wie das Universum selbst. Und vielleicht geht es am Ende nur darum: sich wieder dem Rhythmus anzugleichen, dem man längst angehört, ohne es zu wissen.

Und plötzlich, in genau diesem Moment begreife ich eine Sache. Jede Veränderung ist ein stiller Tod. Kein plötzlicher. Kein dramatischer. Sondern einer, der sich über Jahre zieht. Unbemerkt, während man lacht, arbeitet, liebt, leidet. Man stirbt nicht einmal, sondern in kleinen Stücken. Jedes Mal, wenn man etwas loslässt, von dem man glaubte, es würde für immer sein. Eine Erinnerung. Ein Gesicht. Ein früheres Ich. Ein Mensch. Ein Traum. Und wenn man dann zurückblickt, erkennt man, dass man längst ein anderer geworden ist, ohne es zu bemerken. Vielleicht ist das das eigentliche Gewicht des Lebens. Nichts bleibt. Alles vergeht. Und wir machen trotzdem weiter. Immer weiter. Als wäre es ein Trost, dass selbst der Schmerz ein Teil von uns ist, der lebt.

Nach dem Regen.

Aber es hört nie ganz auf zu regnen.

Der Regen hat aufgehört. Und doch ist die Welt noch voll davon. An einem Haus läuft Wasser aus den Rinnen des Daches, sammelt sich am Rand der Straße und findet immer neue Wege, um irgendwohin zu verschwinden. Der Himmel ist bleigrau. Wie längst gebrauchte Leichentücher, ohne Kontur, als hätte er die Form vergessen. Die Felder liegen hügelig und schwer. Übersättigt von dem, was war. Ich gehe ein Stück die Landstraße hinunter. Der Asphalt ist dunkel, gesprenkelt von Pfützen, in denen sich bei näherer Betrachtung die Bäume spiegeln. Verdreht. Wie Erinnerungen, die man nicht mehr richtig zusammensetzen kann. Am Straßenrand steht ein alter Zaun aus Holz. Nass. Rissig. An einigen Stellen mit Moos überzogen. Ein Vogel sitzt dort. Klein. Fast unscheinbar. Vielleicht bleibt er deshalb. Vielleicht, weil er verstanden hat, dass man manchmal einfach nur aushalten muss. Der Wind, der von Westen kommt, trägt den Geruch von nasser Erde mit sich. Und auch das entfernte Dröhnen einer Bundesstraße. Alles vergeht. Und alles bleibt. Der Regen hört auf, aber die Nässe bleibt noch im Boden. Der Tag geht zu Ende, aber das Licht hängt noch eine Weile in den Pfützen. Manchmal frage ich mich, ob Bewegung überhaupt etwas verändert oder ob sie nur dafür sorgt, dass wir glauben, wir kämen irgendwo an. Weiter unten beginnt die Stadt. Zunächst nur einzelne Häuser. Verstreut zwischen den Hängen. Dann werden sie dichter. Geordneter. Größer. Als hätte jemand beschlossen, das Chaos zu zähmen. Auf einem Hof im Industriegebiet steht ein alter Bus. Das Dach voller Laub. Daneben stapeln sich Reifen. Auch hier hat der Regen Spuren hinterlassen. Kleine Rinnsale, die sich über Beton ziehen. Fast so, als wüssten sie noch nicht, dass hier kein Boden ist, der sie aufnehmen kann. Hinter einer Scheibe flackert ein Fernseher, und auf dem Bürgersteig liegen Zigarettenstummel. Ein Junge fährt mit dem Fahrrad vorbei. Das Schutzblech klappert. Der Reifen schleudert Tropfen auf seine Hose. Nichts davon ist besonders, und doch erzählt es vom Leben, wie es weitergeht. Auch dann, wenn niemand hinsieht.

Ich gehe weiter. Langsam. Mit den Händen in den Taschen. Vorbei an Garagen. Hallen. Werkstätten. Hier und da Gebäude mit verblassten Firmenschildern. Irgendwo klappert ein Rolltor. Glaube ich. Metall auf Beton. Auf einem Schild steht „Zu vermieten“. Der Lack blättert bereits ab. Einen Augenblick bleibe ich stehen. Vielleicht war dort mal eine Tischlerei. Oder ein Traum, der sich nicht mehr gerechnet hat. Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Manchmal rechnen sich die eigenen Träume nicht. Vielleicht waren es auch nur die falschen. Hinter einer der staubigen Scheiben hängt ein alter Kalender. Einer dieser großformatigen, mit halb verblassten Fotografien von Models zwischen Werkzeugen, Autos und Maschinen. Es gibt Männer, die mögen sowas. Ich nicht. Die Jahreszahl kann ich nicht erkennen, nur die Zeit, die darin steckt. Es gibt Jahre, die gehen einfach nicht weiter. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, denke ich darüber nach, ob Arbeit wirklich das ist, was sie uns immer erzählt haben. Sicherheit. Struktur. Sinn. Ich bin vierundvierzig. Fast fünfundvierzig. Und wenn man zu lange aus dem alltäglichen Berufsleben verschwunden ist, wird man schnell übersehen. Zu alt für einen Neuanfang. Zu jung, um aufzugeben. Manchmal schreibe ich Bewerbungen, die nie beantwortet werden. Manchmal bekomme ich Absagen. Und manchmal schicke ich sie gar nicht erst ab. Aus Stolz vielleicht. Oder aus Müdigkeit. Ein Bus fährt vorbei. Hinter beschlagenen Scheiben sitzen Menschen, die vielleicht gerade von der Arbeit kommen. Ihre Gesichter wirken müde, leblos, wie ausgewaschen vom Tag. Sie schauen irgendwohin, aber sehen nichts. Kurz darauf verschwindet der Bus in der Kurve. Für einen Moment bleibt nur das Brummen des Motors zurück. Dann wieder Stille. Jeder hat seinen eigenen Kampf, den er still mit sich selbst austrägt.

Es gibt Tage, da denke ich an das, was hätte sein können. Nicht, weil ich etwas bedauere. Sondern weil ich verstehen will, wo die Weggabelungen oder Kreuzungen wirklich lagen. Früher dachte ich immer, Träume wären etwas, das man festhalten muss. Heute weiß ich, sie haben ihr eigenes Tempo. Wir träumen, bis das Leben uns einholt, und nennen das dann Erfahrung. Vielleicht ist das der Preis dafür, älter zu werden. Man erkennt, dass nichts verloren geht, aber vieles zu etwas anderem wird. Wünsche, die man zu lange mit sich trägt, werden schwer. Erst merkt man es kaum. Aber dann, mit jeder Erinnerung ein bisschen mehr. Irgendwann verändern sie sich. Sie werden zu Geschichten, die man sich selbst erzählt, um nicht zu vergessen, was man einmal wollte. Zu Sätzen, die man nicht mehr laut sagt, weil man längst weiß, dass sie nichts mehr ändern. Vielleicht auch, weil man nicht mehr die Stimme dafür hat. Manchmal spüre ich sie noch, meine alten Wünsche. Nachts, wenn alles still ist und der Kopf zu viel Platz hat. Dann riecht die Luft nach Benzin. Nach Papier. Nach Staub. Gerüche, die man nicht loswird, weil sie irgendwo tief in einem geblieben sind. Und während ich dann irgendwo sitze, frage ich mich, ob das noch Sehnsucht ist, dieses leise Ziehen, das nicht wehtut, aber bleibt oder nur der Versuch meiner Seele, endlich Frieden zu finden.

Was wäre gewesen, hätte ich mich anders entschieden? Früher vielleicht. Entschlossener. Lauter. Aber wer weiß schon, was richtig war? Vielleicht ist es wie mit dem Regen. Er fällt, wann er will, und hört auf, wenn niemand mehr hinsieht. Vielleicht ist das Leben genauso. Es passiert. Und während wir damit beschäftigt sind, es uns selbst irgendwie verständlich zu machen, zieht es einfach weiter. Nein. Die großen Wendepunkte gibt es nicht. Das wird mir immer klarer. Alles beginnt viel früher. Es sind die kleinen Dinge, die bleiben. Formen. Verändern. Ein Satz, den jemand beiläufig sagt. Das Geräusch von Schritten in einer leeren Halle. Der Blick eines Hundes, der nichts fragt. Der kleine Einkauf an einem Samstag, weil sonntags die Geschäfte geschlossen sind. Die Kartoffeln, mit denen man sich solche Mühe gegeben hat und die am Ende trotzdem nicht schmecken. Komisch. Aber in solchen Momenten verstehe ich, dass Träume nicht sterben. Sie werden nur leiser. Vielleicht war das immer ihr eigentlicher Zweck. Vielleicht gibt es Träume nur, damit wir nicht stehen bleiben. Damit wir uns an etwas festhalten, wenn alles andere sich verändert. Vielleicht geben sie uns Richtung, auch wenn sie uns nie wirklich irgendwohin führen. Vielleicht ist genau das ihre Aufgabe, uns lange genug hoffen zu lassen, bis wir müde werden vom Warten. Bis wir begreifen, dass das, was wir gesucht haben, gar nicht in der Bewegung liegt, sondern im Stillwerden danach. Vielleicht sollen sie uns nicht erfüllen, sondern begleiten. Wie ein leises Versprechen, das man irgendwann nicht mehr wörtlich nimmt, aber trotzdem nicht ganz vergisst. Und wenn sie schließlich verblassen, bleibt etwas anderes zurück. Kein Schmerz. Kein Verlust. Eher diese Art von Ruhe, die kommt, wenn man sich nicht mehr wehren muss. Wenn man nicht mehr warten will. Vielleicht war das der Sinn von allem, zu lernen, in der Ruhe Heimat zu finden, ohne das Gefühl zu bekommen, irgendetwas verpasst zu haben. Am Ende wartet nichts auf uns. Kein Ziel. Kein Versprechen. Nur die Stille. Und sie ist gnädiger, als man denkt. Vielleicht ging es nie darum, irgendwo anzukommen. Vielleicht war das Ziel einfach, nicht stehen zu bleiben, während man langsam verschwindet.

Die Geometrie der Zeit.

Wir messen, was wir nicht verstehen.

Und vielleicht ist die Zeit ja gar kein gerader Weg. Kein Strom, der uns irgendwohin führt. Vielleicht ist sie mehr wie ein Raum, der sich dehnt und zusammenzieht. Wie ein Atem, den man nicht kontrollieren kann. Die meisten Menschen glauben, sie würde vergehen, als könnte man sie verlieren, wenn man nicht aufpasst. Aber das stimmt nicht. Sie vergeht nicht. Sie bleibt. Wir sind es, die sich hindurchbewegen, wie Staub, der kurz im Licht schwebt, bevor er wieder verschwindet. Und wenn du genau hinsiehst, merkst du, dass sie überall ist. In den Linien deines Gesichts, das du jeden Tag im Spiegel siehst. In der Art, wie sich das Licht am Nachmittag verändert. In der Stille zwischen zwei Sätzen, wenn niemand mehr etwas zu sagen hat. Die Zeit lebt in diesen Momenten, sie atmet durch uns hindurch. Und während wir glauben, voranzukommen, hält sie uns längst in der Hand. Trotzdem denke ich oft, sie ist nachsichtiger, als wir glauben. Sie zerstört nicht. Sie verändert. Sie nimmt nichts mit Gewalt, sie nimmt nur das, was ohnehin gehen wollte. Erinnerungen. Stimmen. Gedanken. Und doch lässt sie Spuren zurück. Plötzlich ist da eine Melodie, die du wiedererkennst. Ein Geruch, der dich an etwas erinnert, das du längst vergessen hattest. Ja, ich glaube, so arbeitet sie. Still. Beständig. Ohne Eile. Ohne Druck. Auch wenn wir oft etwas anderes glauben.

Ich sitze am Fenster. Halte mit beiden Händen meine Tasse fest, als könnte ich die restliche Wärme speichern. Aber das kann ich nicht. Draußen hängt der Abend zwischen Grau und Gold. Es scheint fast, als hätte die Sonne vergessen, wohin sie gehört. Und irgendwie verstehe ich sie. Auf dem Fensterbrett steht eine alte Uhr. Ein Geschenk aus längst vergangenen Zeiten, von einem Menschen, der nicht mehr da ist. Sie hat einen Sprung im Glas. Noch tickt sie, aber unregelmäßig. Ich lächle, weil ich denke, dass sie ebenfalls einfach beschlossen hat, sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Da ist dieses Zittern des Sekundenzeigers. Dieses nervöse, kleine Zucken, das doch alles bedeutet. Früher hätte ich mich darüber geärgert, weil die Zeit dieser Uhr nicht so läuft, wie man es erwartet. Heute lasse ich sie einfach laufen. Nicht alles muss repariert werden. In der Küche steht noch ein Topf auf dem Herd. Das Wasser darin spiegelt das Licht des Fensters. Für einen Moment erkenne ich mein Gesicht darin. Blasser als früher. Aber irgendwie klarer. Ich erinnere mich an Tage, die länger waren. Oder waren sie nur voller, gefüllt mit Eindrücken, die geblieben sind? Ich weiß es nicht. Da war Lärm. Da waren Stimmen. Da war Bewegung. Jetzt? In diesem Augenblick ist es still. Nur das Ticken der Uhr, fast gleichmäßig und doch beruhigend. Die Zeit geht weiter, auch wenn ich stehen bleibe. Zurück am Fenster sehe ich, wie die Schatten sich über den Boden schieben. Alles ist in Bewegung, auch das, was stillsteht. Ich hebe die Hand, als könnte ich den letzten Lichtstreifen halten, bevor er verschwindet. Draußen lösen sich Blätter von den Eichen. Der Wind zieht sie von den Ästen. Ohne Hast. Ohne Hektik. Vielleicht ist es nur der Moment, in dem sich etwas löst, sich dreht und lautlos zu Boden fällt. Auch das ist Zeit. Nicht das Ticken der Uhr. Nicht das, was wir zu messen versuchen. Sondern das Loslassen.

Ein Schluck Kaffee. Draußen fährt ein Auto über die Straße, trifft eine Pfütze, das Wasser spritzt in alle Richtungen. Zurück bleiben Wellen, die langsam auslaufen. Ein Teil des Wassers fließt in eine andere Ecke, ein Teil kehrt zurück. Und nichts ist mehr, wie es vorher war. So funktioniert Zeit. Nicht wie ein Strom, der fließt, sondern wie Bewegung, die Form verändert. Verlagerung. Ein Verschieben von dem, was war, zu dem, was sein wird. Und trotzdem zählen, messen, vergleichen wir. Ständig im Glauben Kontrolle zu haben, wenn wir dem Unendlichen Zahlen geben. Dabei haben wir keine Ahnung, wovon wir sprechen. Wir haben Maßeinheiten erschaffen, um uns selbst zu beruhigen. Sekunden. Meter. Kilogramm. Alles nur Worte, um uns in einem Universum zu orientieren, das wir nicht begreifen können. Wir sagen eine Sekunde, wenn sich die Erde ein Stück weiterdreht. Ein Jahr, wenn sie ihre Umlaufbahn vollendet hat. Und doch das sind nur Etiketten. Spuren in Sand geschrieben, bevor die Wellen kommen. Vielleicht ist Zeit nichts, das vergeht. Vielleicht ist sie die Veränderung selbst. Etwas, das nicht an uns vorbeizieht, sondern durch uns hindurch. Wir sind nicht außerhalb der Zeit, wir sind ihre Bewegung, ihre Dehnung, ihr Atem.

Wissenschaftlich, ja, kann man sie messen. Aber selbst dort bleibt sie relativ. So wie Einstein es mal sagte, sie ist nicht fest. Sie dehnt sich, krümmt sich, verlangsamt sich. Für den, der stillsteht, vergeht sie anders als für den, der sich schnell bewegt. Und vielleicht ist in gewisser Weise alles gleichzeitig. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Alles Schichten derselben Landschaft. Nur unser Bewusstsein geht hindurch und nennt das Bewegung. Vielleicht ist es das, was Leben wirklich ist, ein Riss im Gewebe der Zeit, durch den das Bewusstsein hindurchsieht. Für einen Augenblick. Ich weiß, es klingt verrückt, aber manchmal stelle ich mir vor, dass alles, was war und sein wird, längst da ist. Dass nichts entsteht und nichts vergeht, sondern nur aufleuchtet, für den Bruchteil eines Moments. Und dass wir, während wir uns an Sekunden festhalten, glauben, etwas verstanden zu haben. Dabei sind wir nur Zeugen einer Illusion, die uns ruhig schlafen lässt. Vielleicht ist Zeit kein Maß, sondern ein Spiegel. Und was wir darin sehen, sind nicht die Jahre, die vergehen sondern immer die Veränderungen in uns, die wir nicht wahrhaben wollen.

Der Kaffee ist nur noch lauwarm. Die Dunkelheit liegt mittlerweile schwer über den Dächern der Vorstadtsiedlung. Draußen hat der Regen begonnen. Gleichmäßig, als würde die Nacht selbst atmen. Talko liegt neben mir, hebt den Kopf, seine Augen folgen mir, während ich den letzten Schluck trinke. Er steht auf, kommt näher, stupst mit der Nase gegen mein Bein. Ein Zeichen, das vielleicht mehr sagt als Worte. Vielleicht will er raus. Vielleicht merkt er nur, dass ich zu lange stillgesessen habe. Ich nehme die Leine und vergesse die Jacke. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss. Die Luft draußen ist kalt. Schärfer, als sie es noch vor ein paar Wochen war. Der Sommer ist vorbei. Da ist kein Wind mehr, der Wärme trägt. Nur Regen, der fällt. Gleichgültig als wüsste er, dass alles irgendwann ausgelöscht wird. Selbst die Erinnerung daran, wie es einmal roch, wenn die Sonne die Straßen trocknete. Ich gehe langsam, höre das Tropfen auf dem Asphalt. Talko läuft voraus, bleibt stehen, dreht sich um, prüft, ob ich nachkomme. Ich tue es. Natürlich. Und vielleicht tue ich das schon mein ganzes Leben. Einfach folgen. Schritt für Schritt, durch das, was Zeit hinterlässt. Ich denke an die Tage, die hell waren. An Nachmittage, die sich wie Versprechen anfühlten. Aber sie sind vorbei, ohne dass ich es gemerkt hätte. Vielleicht ist das der wahre Trick der Zeit. Wie gesagt, sie nimmt dir nichts mit Gewalt. Sie lässt dich glauben, du hättest noch genug davon. Und während du rechnest, misst, planst, zieht sie leise Linien um dich herum, verschiebt das Licht auf den Dingen und eines Tages erkennst du die Welt nicht mehr wieder, obwohl du nie weg warst.

Wir biegen in die kleine Straße ein. Wasser sammelt sich in Rinnen, die Laternen spiegeln sich darin wie Erinnerungen, die sich weigern, endgültig zu verschwinden. Ich sehe wieder mein Spiegelbild. Diesmal verzerrt. Flüchtig, im Wasser eines Bordsteins. Nichts hält lange. Nicht der Regen. Nicht das Licht. Nicht wir. Man könnte meinen, dass alles vergeht, damit Bewegung bleibt. Der Sommer musste gehen, damit der Herbst Platz findet. Etwas Altes stirbt, damit etwas anderes atmen kann. Vielleicht hat die Zeit gar kein Ziel. Vielleicht ist sie einfach das, was bleibt, wenn alles andere aufhört, sich zu wehren.

Ich bleibe kurz stehen, sehe in den Himmel, wo kein Stern zu sehen ist. Nur Wolken, schwer und träge. Talko wartet, blickt mich an, und in seinem Blick liegt diese einfache Wahrheit, die Menschen selten begreifen. Das Leben ist keine Abfolge von Momenten. Sie ist eine einzige, endlose Gegenwart, die wir zu zerteilen versuchen, weil wir Angst vor ihrer Tiefe haben. Ich streiche ihm über den Kopf, gehe weiter. Der Regen wird stärker, die Straße glänzt. Und während wir durch die Dunkelheit laufen, denke ich immer noch über die Zeit nach. Sie ist das, was bleibt. Sie trägt uns, verändert uns, formt uns. Und wenn der Morgen kommt, wird alles ein wenig anders aussehen, ohne dass jemand sagen könnte, warum.

Bis es still wird.

Und nichts mehr übrig ist als Staub.

Wir sind nur Geschichten, die sich selbst erzählen, bis sie verstummen. Zwischen Geburt und Tod ein paar Jahre, in denen wir glauben, irgendetwas zu verstehen. In den Fenstern spiegelt sich das Licht der Bildschirme, Gesichter leuchten kurz auf, verschwinden wieder. Menschen reden, ohne zuzuhören. Lachen, ohne Freude. Und irgendwo, mitten in all dem, sitzt jemand an einem Küchentisch, eine Tasse halbvoll und starrt auf die Wand gegenüber, als würde sie gleich etwas sagen. Vielleicht tut sie das auch. Vielleicht erzählt sie von all den Dingen, die wir längst vergessen haben. Aber wir hören nicht zu. Wir schreiben, lieben, verlieren. Machen Fehler, nennen es Erfahrung. Und jedes Mal, wenn wir glauben, es verstanden zu haben, zieht das Leben einfach weiter. Wortlos. Unbeeindruckt. Auf Fotos halten wir Gesichter fest, die wir irgendwann kaum noch erkennen. Stimmen klingen in der Erinnerung, aber sie bleiben nicht dieselben. Alles verblasst. Langsam. Wie Straßenkreide auf nassem Asphalt. Zurück bleibt nur das Knistern eines Moments, den man fast berühren konnte, bevor er sich auflöste. Vielleicht sind wir wirklich nur Echos. Wandernde Schatten auf einer Leinwand aus Zeit. Und manchmal, spät in der Nacht, wenn die Welt den Atem anhält und selbst die Uhr aufhört zu ticken, kann man sie hören. Leise, gebrochene Melodien, die von uns erzählen. Nicht laut. Nicht klar. Nur gerade genug, um zu wissen, dass wir einmal da waren.

Vielleicht geht es nicht darum, etwas zu verstehen. Vielleicht ist alles nur Bewegung. Das Leben, ein Fluss, der uns mitnimmt, egal, wie sehr wir uns an den Ufern festklammern. Und dann nennen wir es Sinn, wenn wir glauben, eine Richtung zu erkennen. Doch am Ende ist es auch nur Strömung. Die Tage kommen. Sie gehen. Ohne Abschied. Morgens riecht die Luft nach Regen. Mittags nach Beton. Abends nach nichts. Und zwischen all dem verschieben sich die Schatten auf den Wänden. Langsam. Als wollten sie uns zeigen, wie die Zeit vergeht, ohne sich zu entschuldigen. Manchmal denke ich, das Leben besteht aus lauter Wiederholungen. Denselben Fragen, denselben Fehlern, denselben stillen Momenten, in denen niemand hinsieht. Wir suchen nach Bedeutung in Dingen, die keine haben, und übersehen das, was uns still begleitet. Das Tropfen des Wassers im Waschbecken. Das Flackern einer Lampe. Das Atmen eines anderen Menschen. Es sind die kleinsten Geräusche, die uns verraten, dass wir noch hier sind. Und vielleicht ist das alles, was bleibt. Die Gewissheit, dass wir einmal existierten, für einen Moment, zwischen Licht und Dunkel. Danach wird es wieder still. Und irgendwer, irgendwann, erzählt unsere Geschichte weiter, ohne zu wissen, dass es eigentlich seine eigene ist.

Ich glaube, wir haben verlernt, still zu sein. Wir füllen jede Sekunde mit etwas, das uns ablenkt. Geräusche. Gesichter. Worte, die nichts bedeuten. Wir nennen es Verbindung, aber die Wahrheit ist, wir fürchten uns vor der Leere. Vor dem Moment, in dem nichts mehr antwortet. In dem man sich selbst hört. Ohne Filter. Ohne Kulisse. Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns dauernd bewegen, dauernd reden, dauernd etwas festhalten müssen. Weil Stillstand uns immer an das erinnert, was wir verloren haben. Und vielleicht bin ich deshalb immer unterwegs. Getrieben. Ja, ich hab Fehler gemacht. Große und kleine. Manche haben leise geflüstert. Andere haben alles zum Einsturz gebracht. Ich hab geglaubt, man könne Menschen festhalten, wenn man sie nur genug liebt. Aber Liebe ist kein Griff. Kein Werkzeug. Sie ist ein Wind, der weht, wo er will. Ich habe zu spät verstanden, dass wir oft nur das wiederholen, was uns zerstört, weil es vertraut klingt. Und manchmal erkennst du erst, wer du wirklich bist, wenn du in den Trümmern stehst und siehst, dass da nichts mehr zu retten ist. Wir klammern uns an Dinge, die keinen Wert haben. An Namen, an Erinnerungen, an alte Nachrichten, als könnten sie irgendetwas beweisen. Doch alles, was bleibt, sind Fetzen. Bilder. Stimmen. Schatten. Und irgendwann merkst du, dass du dich an nichts mehr erinnerst, ohne dabei etwas zu verlieren. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass das Leben kein Kreis und keine Linie ist. Es ist nur ein langsames Verblassen. Eine Bewegung, die so gleichgültig ist, dass man sie kaum spürt. Und irgendwo dazwischen versuchen wir, Bedeutung zu finden, wo keine ist. Vielleicht ist das der wahre Irrtum, zu glauben, das Leben müsse etwas erklären Oder einen Sinn haben. Das tut es nicht. Das hat es nicht. Es passiert einfach. Und wenn es still wird, wenn das Rauschen der Welt endlich verstummt, dann bleibt vielleicht nur ein leiser Gedanke, der durchs Dunkel treibt. Wir waren hier. Und dass es, für einen kurzen Moment, genug war.

Ich fahre jetzt den Rechner runter. Das Licht des Bildschirms verblasst langsam. Das Smartphone liegt daneben. Es bleibt stumm. Keine Nachrichten. Keine Stimmen. Nur das schwache Spiegeln meines Gesichts im schwarzen Glas. Ich ziehe die alten Stiefel an, die an den Nähten aufgeplatzt sind. Das sie nicht mehr lange halten, ist mir klar. Aber manchmal habe ich das Gefühl, sie kennen die Wege besser als ich. Draußen hängt der Tag müde zwischen Regen und Sonne, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er noch leben will. Die Straße glänzt feucht, der Wind riecht nach altem Laub. Johann sagte mal zu mir, man solle alte Zöpfe abschneiden. Ich denke, ich habe mehr davon, als mir lieb ist. Menschen. Erinnerungen. Ideen. All die Dinge, die ich zu lange festgehalten habe, als könnten sie mich retten. Aber nichts rettet dich. Du lernst nur, das Gewicht zu tragen, bis du es nicht mehr spürst. Ich glaube, ein Teil von mir ist heute gestorben. Nicht mit Drama, nicht mit Schmerz. Einfach so. Leise, wie eine Tür, die zufällt, ohne dass man sich noch einmal umdreht. Ja. Der Tag geht zu Ende. Und das, was von mir übrig war, auch. Aber vielleicht ist das in Ordnung. Vielleicht geht es nicht darum, etwas festzuhalten, sondern darum, loszulassen, bevor man selbst zu einer Erinnerung wird. Ich gehe raus. Weiter. Schritt für Schritt, durch das Zwielicht, das über allem liegt. Kein Ziel, kein Plan. Nur Bewegung. Und irgendwo in der Ferne, hinter den Wolken, flackert ein Rest von Licht. So schwach, dass man nicht weiß, ob es bleibt oder schon vergeht.