Wenn das Licht ausgeht.

Dreht sich trotzdem alles weiter.

Draußen ist der Wind müde geworden. Ich bin es auch. Nur ab und zu zieht er noch einmal durch die Straßen, fegt ein paar Blätter über die Hofeinfahrten, rüttelt hier und da kurz an Regenrinnen, als wolle er sich vergewissern, dass die Welt noch da ist. Im Büro ist es warm. Zu warm vielleicht. Der Bildschirm flimmert, irgendwo tropft noch Wasser von der Jacke, die an einem Haken hängt. Ich starre auf das Postfach. Nichts, was wirklich zählt. Rechnungen, Newsletter, Spam. Der übliche Scheiß. Dann dieses kleine Geräusch. Eine neue Mail. Werbung. Eigentlich vollkommen uninteressant. Und doch bleibe ich an der Betreffzeile hängen: „Sind Sie bereit für den Jahresendspurt?“ Fick Dich. Ich lehne mich zurück. Denke an frischen Kaffee und darüber nach, ihn zu kochen. Ich sehe hinaus auf die grauen Dächer, den Himmel, der noch immer nach Sturm schmeckt. Als müsste man noch etwas beweisen, kurz bevor das Licht ausgeht. Jahresendspurt. Ätzend. Das heißt November, graue Tage, an denen man zu früh das Licht anmacht. Es heißt Dezember, überfüllte Parkplätze, Lichterketten in Fenstern, die Wärme nur spielen. Es heißt Familienbesuche, Fragen, die man nicht beantworten will, Gespräche, die man überhaupt nicht führen möchte, Menschen, die man nicht unbedingt sehen muss. Es heißt Lächeln, weil man soll, und Termine, die sich stapeln, als wäre das Jahr nicht schon schwer genug gewesen. Alle rennen, als gäbe es am Ende einen Preis. Ich nicht. Nicht dieses Jahr. Ich will keinen Endspurt. Kein Gedränge, kein künstliches Licht. Ich will, dass alles einfach langsamer wird. Vielleicht sogar still.

Das Smartphone liegt auf dem Tisch. Auf einem Buch. Schon bescheuert. Eigentlich hätte ich das Buch nehmen sollen. Papier. Gewicht. Eine Geschichte, die sich Zeit lässt. Heute greife ich nach dem Telefon. Vielleicht, weil es leichter ist. Weil ich bequemer bin. Oder weil wir irgendwann unbewusst gelernt hat, zuerst das zu nehmen, was leuchtet. Keine Ahnung. Ich entsperre den Bildschirm. Instagram. Irgendein Reel, das den Übergang von Halloween zu Weihnachten zeigt. Kürbisse, dann Schneeflocken, dann Glitzer. Im Text steht irgendwas von X-MAS. Ich bleibe kurz hängen, frage mich, wer das eigentlich erfunden hat. Diese Beschleunigung. Diese Zeit, die sich selbst frisst. Im Hintergrund klingt Mariah Carey, leise, aber trotzdem unerträglich. All I want for Christmas is you. Echt jetzt, fick Dich. Ich will gar nichts. Nicht mehr. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, das Telefon aus dem Fenster zu werfen. Runter auf die Straße. Unter einen der LKW. Vielleicht würde es klatschen, zerspringen, still werden. Ich stelle mir vor, wie ich mir dann ein altes Nokia 3310 besorge. Aber kein neues. Eines mit Kratzern, stumpfem Display, das beim Einschalten dieses eine Geräusch macht. Eins wie damals, als die Welt irgendwie noch kleiner war. Und trotzdem irgendwie größer. Man konnte einfach verschwinden. Ohne Erklärung. Niemand schrieb einem hinterher. Niemand interessierte sich für die Stunden, in denen man nicht online war. Advent. Weihnachten. Echt jetzt, ich hab das mal gemocht. Dieses langsame Näherkommen, den Geruch von Tannennadeln, Kerzenwachs, das Rascheln von Geschenkpapier, die Vorfreude. Das ist schon letztes Jahr gestorben. Heute riecht alles nach Parfüm und Plastik. Nach Erwartung. Nach etwas, das glänzen will. Früher war das Licht warm. Heute ist es grell. Und das, was einmal verloren geht, kommt nicht zurück. Manchmal denke ich, vielleicht ist das gut so. Vielleicht muss nicht alles wiederkommen. Vielleicht reicht es, zu wissen, dass es einmal da war.

Manchmal denke ich, man könnte das Jahr einfach schon im Oktober beenden. Nicht offiziell natürlich. Nur für sich. Kein Rückzug, eher eine Entscheidung. Ein stilles Ende, bevor der ganze Zirkus aus Licht und Lärm wieder anfängt, die Stille zu fressen. Wenn der Wind durch die Straßen zieht und die Tage kürzer werden, so wie jetzt, wäre das der richtige Moment. Einfach sagen: Fick dich. Es reicht. Ein Weihnachtsmarkt vielleicht. Wenn es passt. Aber kein Weihnachten. Kein Silvester. Keine Raketen, die den Himmel anlügen. Nur Dunkelheit. Regen. Ein Feuer vielleicht. Und dieses beruhigende Wissen, dass die Welt sich auch ohne einen weiterdreht. Ich könnte das Telefon ausschalten. Für Wochen. Kein Instagram. Keine Nachrichten. Kein WhatsApp. Kein ständiges Flackern, das vorgibt, Wichtig zu sein. Nur Ruhe. Vielleicht ein altes Buch, das nach Staub riecht. Musik, die ein bisschen kratzt. Kaffee, der bitter ist und zu schnell kalt wird. Ich würde die Tage ziehen lassen, wie Wasser über Steine. Nichts posten. Nichts teilen. Nichts erklären. Einfach verschwinden. Unter einem Stein leben, irgendwo zwischen den Monaten, dort, wo Zeit einfach vergeht.

Weihnachten würde vorbeigehen. Ohne mich. Kein Geschenkpapier. Kein künstlicher Schnee. Keine Mariah Carey aus Lautsprechern in Supermärkten. Nur das leise Brennen einer Kerze, die niemand anzündet, weil niemand da ist, außer mir. Ich denke an die Gesichter an den Tischen, an Gespräche, die nichts sagen, an das ewige Lächeln, das man sich gegenseitig schuldig ist. Ich hab das früher gemocht. Echt jetzt. Diese Wärme. Das Licht. Den Geruch von Mandeln und Wachs. Aber irgendwann ist etwas gestorben. In mir. Vielleicht letztes Jahr. Vielleicht schon früher. Vielleicht war es nie echt. Vielleicht war das Alles nur eine Geschichte, die ich mir selbst erzählt habe, damit der Winter nicht zu lang wird. Ich könnte einfach gehen. Offline. In eine selbstgewählte Stille. Ohne Wünsche. Ohne Rückblicke. Ohne Pläne für das, was kommen soll. Nur Dunkelheit, die sich über alles legt. Und irgendwann, Ende Januar vielleicht, oder Ende Februar, einfach wieder auftauchen. Als wäre nichts gewesen. Als hätte ich das Jahr nur ein wenig früher beendet und später begonnen als alle anderen.

Ich hab mir Kaffee gekocht und schaue wieder aus dem Fenster. Vielleicht würde niemand es merken. Vielleicht schon. Die Welt hat ein kurzes Gedächtnis. Ein paar Tage, dann zieht alles weiter. Der Wind, die Menschen, selbst die eigenen Gedanken. Man verschwindet nicht mit einem Knall, sondern leise, im Rauschen der alltäglichen Geräusche. Vielleicht liegt dann Staub auf dem Schreibtisch. Vielleicht läuft irgendwo noch eine ungelesene Mail ein. Alles bleibt in Bewegung. Egal, ob man da ist oder nicht. Da draußen wird der Wind weiterziehen, als wäre nichts gewesen. Und wahrscheinlich hat er recht.