Am Ende des Weges.

Was war, darf liegen bleiben.

Als ich losging, war alles dunkel. Die Sonne lag noch hinter dem Horizont. Die Bäume wirkten im fahlen Licht des Mondes wie Schatten. Mit jedem Schritt, den ich ging, wurde der Tag etwas heller. Der Morgen lag schwer über den Feldern. Nebel verfing sich in der Landschaft und zwischen den Ästen der Kiefern und Eichen. Fast so, als wolle er die Welt noch einen Moment lang verbergen. Montag. Einer dieser tristen Tage, an denen nichts neu beginnt und doch alles danach riecht. Die Straßen und Wege waren feucht. Die Luft kalt. Jeder Schritt klang, als würde ich über alte Erinnerungen laufen. Talko lief voraus, zog mal mehr, mal weniger an der Leine. Fast so, als wolle er mich daran erinnern, dass es weitergehen muss. Manchmal blieb er stehen, schnupperte, drehte sich kurz um. Ein paar Krähen zogen über uns hinweg, verschwanden im Grau. Ich denke an das, was sich über Jahre angesammelt hat. Worte, die ich nie ausgesprochen habe. Aufgaben, die ich immer wieder aufgeschoben habe. Gedanken, die wie Staub in den Ecken sitzen. Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem man das alles ablegen muss, um wieder klarzusehen. Ich glaube, heute ist dieser Punkt. Kein großes Versprechen. Kein klares Ziel. Nur der Entschluss, leichter zu werden. Ballast abzuwerfen, offene Kapitel zu schließen, Ungelöstes endlich zu Ende zu bringen und aufzuräumen, was mich festhält. 2026 beginnt bald. Und ich denke darüber nach. Hier. Auf diesem Weg. Mitten im Nebel. Leise. Ohne Ansage. Nur ein Schritt nach dem anderen.

Nur, damit wir uns nicht falsch verstehen: Es geht mir gut. Auch wenn sich das vielleicht anders liest. Ich bin nur müde. Nicht im Kopf, sondern im Kern. Jeder Anfang kostet Kraft. Und dieser frisst sich durch Schichten, die man jahrelang wachsen ließ. Er nimmt mir die Ausreden, die Bequemlichkeiten, das falsche Gefühl von Sicherheit. Veränderung ist kein romantischer Akt. Sie ist ein kalter Morgen, an dem du dich zwingst, weiterzugehen, obwohl alles in dir stehen bleiben will. Talko läuft neben mir, atmet schwer. Seine Pfoten hinterlassen Spuren im nassen Sand, und für einen Moment denke ich, dass alles genau so sein muss – anstrengend, aber echt. Jeder neue Anfang ist ein stiller Kampf. Gegen Müdigkeit, gegen Gewohnheit, gegen das eigene Abwarten. Der Wind frischt auf. Es riecht nach Erde, nach Holz, nach einem leisen Versprechen von etwas Neuem. Ich sehe zurück und erkenne, wie eng die Kreise geworden sind, in denen ich mich bewegt habe. Komfort, Routine, all das, was man mit Ruhe verwechselt. Doch jede Komfortzone ist am Ende nur ein Raum ohne Fenster. Ein Gefängnis. Nur mit dem Unterschied, dass man gar nicht merkt, wie man sich selbst einsperrt. Man bleibt, weil man glaubt, dass es draußen gefährlicher ist. Aber das ist die Lüge, die uns ruhig hält.

Es geht mir gut. Vielleicht besser als seit Langem. Schreibt man das so? Egal. Es geht mir gut, weil ich aufhöre, mich selbst zu beruhigen. Weil ich erkenne, dass der Preis der Freiheit immer das Ungewisse ist. Ich habe mich entschlossen, weiterzugehen. Langsam. Schritt für Schritt. Durch Nebel, Müdigkeit, Zweifel, durch Regen und Dunkelheit. Und wenn das Jahr zu Ende geht, will ich so leer sein, dass nur noch Platz bleibt für das, was wirklich zählt. Für das, was wirklich echt ist.

Manchmal braucht man eine Inventur. Denke ich. Ich meine nicht dieses Listenmachen oder Aufschreiben. Ich meine diesen einen ehrlichen Blick. Was schenkt mir Kraft, was frisst mich auf. Menschen, Routinen, Gedanken. Ich merke, wie vieles in mir längst Staub angesetzt hat. Wie viel davon ich weitertrage, weil es einfacher ist, als es loszulassen. Vielleicht beginnt alles mit Aufräumen. Nicht in der Wohnung, sondern im Kopf. Weg mit dem Überflüssigen. Den alten Nachrichten, den Stimmen, den falschen Sicherheiten. Vielleicht reicht manchmal schon Schweigen. Ein paar Tage nichts sagen, nichts senden, nichts rechtfertigen. Nur hören, was in einem übrig bleibt, wenn der Lärm im Außen leiser wird.

Ich denke auch an Social Media. Was für ein Quatsch, meistens jedenfalls. Eine digitale Welt, in der jeder redet, aber kaum jemand zuhört. An die Feeds, das endlose Scrollen, Gesichter, die man nicht kennt, Meinungen, die nichts bedeuten. Echt jetzt, ich muss nicht jedem folgen, der glaubt, etwas zu sagen zu haben. Und nicht jeder, der mir folgt, muss in meiner Liste bleiben. Das ist kein Verlust. Es ist Reinigung. Manche schauen ohnehin nur, weil sie neugierig sind. Sie wollen wissen, wie tief man vielleicht gefallen ist oder ob man sich wieder aufrappelt. Und dann reden sie darüber, statt zu fragen. Diese Art von Aufmerksamkeit hat kein Gewicht. Sie bleibt an der Oberfläche, wie Regen auf kaltem Asphalt, auf den auch keiner wirklich Bock hat. Ich will nichts mehr für Menschen tun, die nur sehen, aber nie wirklich hinschauen.

Ein Rückzug aus dem Dauerrauschen, das vorgibt, Verbindung zu sein. Ich will mir die Stille zurückholen. Den echten Blick. Die echten Menschen. Ich glaube, das ist der Punkt. Klärung. Herausfinden, was und wer mitkommen darf, wenn das Jahr endet und ein neues beginnt. Was bleibt, wenn alles andere verschwindet. Das, was ich dann in der Hand halte, ist mein Kompass. Und vielleicht ist das das Beste, nicht mehr funktionieren wie früher. Nicht mehr essen, schlafen, arbeiten, denken wie jemand, der sich selbst vergessen hat. Sondern neu werden. Von innen heraus. Und ich denke, man braucht dafür kein Ziel. Nur Rückgrat. Keine Analyse mehr, kein Warum. Nur anfangen, anders zu handeln. Leise. Konsequent. Und wenn es weh tut, dann ist das normal. Abschiede tun das. Sie reißen Löcher, durch die Licht fällt.

10 Km. Der Wind hat nachgelassen. Über den Feldern hängt der Nebel noch immer, aber er wirkt heller. Talko bleibt stehen, blickt nach vorn, dann zu mir. Für einen Moment ist alles ruhig. Kein Gedanke, kein Plan. Nur der Atem, das Knirschen unter den Schuhen, das leise Tropfen der Äste. Vielleicht ist das genug. Kein Anfang, kein Ende. Nur dieser Weg hier, jetzt, unter einem Himmel, der tut, als wüsste er nichts von uns.