Der Schimmelreiter.
Und die Jahre atmen.
Der Sturm flüstert seine eigene Geschichte. Der Regen spielt die Melodie dazu. Es ist einer dieser Morgen, an denen die Welt scheint, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Das Wasser fällt schräg. Gepeitscht vom Wind, der durch die engen Gassen fährt und das Laub aufwirbelt. Es scheint fast so, als wolle er endlich Ordnung schaffen in einem Herbst, der längst beschlossen hat, zu vergehen. Am Rande des Dorfes stehen Eichen. Schwer. Schwarz. Ihre Blätter klammern sich an die Äste wie müde Gedanken, die nicht loslassen können. Über den Dächern hängt der Himmel tief. Fast aufdringlich. Eine schwarzgraue Fläche ohne Anfang und ohne Ende. Ein Rinnsal zieht sich am Bordstein entlang, trägt vergilbtes Laub mit sich, wie kleine Boote, die schon lange keinen Hafen mehr suchen. Aus den Schornsteinen steigt Rauch, dünn und unentschlossen. Er vermischt sich mit dem Regen und verschwindet im Wind. Irgendwo fährt ein Auto über die nasse Straße. Irgendwo bellt ein Hund. Und trotzdem liegt in all dem eine seltsame Ruhe. Eine, die nicht tröstet, aber auch nichts erwartet. Nur dieses leise Wissen, dass der Tag kommen wird, ob man will oder nicht. Er wird sich durchkämpfen. Durch den Regen. Durch das Grau. Durch alles, was schwer ist. Und vielleicht, später, wenn der Wind sich gelegt hat, wird irgendwo zwischen den kahlen Zweigen, die wie knochige, sterbende Finger in den Himmel ragen, ein Stück Licht zu sehen sein. Blass. Fast farblos. Aber echt.
Hier, am Fenster, klingt der Sturm gedämpft. Fast wie ein fernes Meer. Der Regen prasselt gegen die Scheibe. Er zieht Spuren aus Licht und Wasser, die hier und da ineinander verlaufen. Auf der Fensterbank sehe ich Staub, den der Wind nicht erreichen kann. Alles hier ist still. Man hört nur das Knistern der Kerze, den Atem der Wohnung. Auf dem Tisch steht eine Tasse, leer, ausgetrunken, darauf wartend, wieder gefüllt zu werden. Der Geruch hängt aber noch in der Luft. Alles wirkt noch schwer von Nacht und Ruhe. Eine Uhr tickt. Talko gähnt und streckt sich. Die Heizung müsste wieder entlüftet werden. Die Deckenlampe ist aus, das Licht der Stehlampe weich und warm. Es tastet sich an den Vorhängen entlang, findet Wände, Ecken und das Buch, dass schon offen vor mir auf dem Tisch liegt. Es ist die Geschichte von Hauke Haien. Der Schimmelreiter. Ich lese sie jedes Jahr, wenn der Wind an den Fenstern rüttelt und die Menschen lieber zu Hause bleiben. Vielleicht, weil in dieser Geschichte etwas vom Norden steckt, das ich verstehe. Das Dunkel. Die Weite. Die Sturheit der Menschen, die sich dem Meer entgegenstellen und wissen, dass sie diesen Kampf am Ende doch nie gewinnen können. Eigentlich kenne ich jede Zeile. Trotzdem lese ich sie wieder, so, als könnte die Geschichte dieses Mal anders ausgehen. Aber das wird sie nicht. Talko hebt kurz den Kopf, lauscht, legt ihn wieder auf die Pfoten. Die Flamme einer Kerze flackert, als hätte sie Angst, und ich denke an Hauke, wie er durch die Nacht reitet, durch Wind und Gischt, allein mit seinem Schimmel und der Schuld, die ihn begleitet. Es gibt Geschichten, die bleiben, egal, wie viele Jahre vergehen. Und jedes Mal, wenn ich sie lese, spüre ich, wie etwas in mir still wird. Vielleicht, weil auch ich die Welt manchmal nur vom Rand her begreife. Dort, wo das Licht endet und die Dunkelheit beginnt.

Ich weiß noch genau, wie ich das Buch zum ersten Mal las. Es war auch im Oktober. Das Wetter nicht anders als heute. Wind. Regen. Dieses schwere Grau. Ich saß neben Sebastian. Er war ein wenig älter als ich. Herr Mosenhauer hatte uns das Buch „Der Schimmelreiter“ verordnet. Pflichtlektüre. Jeder musste es lesen. In der Klasse verdrehten alle die Augen. Man stöhnte über die Sprache. Zu alt. Zu zäh. Zu weit weg von allem, was ihnen damals wichtig schien. Aber ich nicht. Während sie über die Sätze lachten, über das viele Grau und den Wind, der scheinbar nie endete, tauchte ich ein. Ganz tief. Ein, in diese raue, wortkarge Landschaft, in der Menschen und Meer denselben Atem hatten. Ein, in ein Leben, gezeichnet von Stürmen, getragen von einer Stille, die tiefer ging als jedes Geräusch. Ich verstand nicht alles, das will ich wohl zugeben. Aber ich spürte, dass mir diese Welt näher war als die, in der ich saß. Neonlicht. Hefte. Der Geruch von Kreide und feuchten Jacken. Etwas in diesen Sätzen hielt mich fest. Nicht nur die Handlung. Auch der Ton. Als hätte jemand die Zeit in Worte gegossen und mir gesagt, dass es so klingt, wenn die Welt den Atem anhält.
Und nun ist das ein Vierteljahrhundert her. Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht. Und wie still sie das tut. Man merkt es erst, wenn man begreift, dass ein Tag nie einfach nur ein Tag ist, sondern immer auch einer weniger. Die meisten meiner damaligen Klassenkameraden habe ich nie wieder gesehen. Manche sind weggezogen, manche einfach verschwunden. Einige sind leider schon gestorben. Und auch Herr Mosenhauer weilt bedauerlicher Weise längst nicht mehr unter den Lebenden. Am Ende ist irgendwie nur das Buch geblieben. Und jedes Jahr im Oktober, wenn einer der Herbststürme über die Dächer zieht, der Himmel tief hängt und der Tag nicht zu wissen scheint, ob er schon endet oder gar nicht erst beginnen will, krame ich es aus dem Schrank hervor. Ich setze mich gemütlich hin und während der Wind an den Scheiben kratzt, tauche ich wieder ein, in diese Welt aus Deich und Nebel, aus Pflicht und Schuld, aus Mensch und Meer. In diese Sprache, die mir uralt erscheint und trotzdem nicht vergeht. Es ist jedes Mal dasselbe Gefühl. Vertraut. Still. Auch ein wenig schmerzhaft. Und irgendwann, zwischen den Seiten, merke ich, jedes Mal, dass es längst mehr ist als nur eine Geschichte. Es ist mein Buch geworden. Mein Lieblingsbuch. Ein Stück Leben, das immer bleibt, selbst wenn alles andere vergeht.