Der nächste Schritt.

Manchmal reicht es, weiterzugehen.

Das Licht war grell, selbst hinter geschlossenen Lidern. Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Wir schreiben das Jahr 1981. Ich war ein paar Stunden alt. Ein altes Krankenhaus, irgendwann um 1870 gebaut, zwischendurch wohl modernisiert. Dreißig Kilometer von meinen Eltern entfernt. Die Luft roch wahrscheinlich nach Metall und Desinfektion. Irgendwo summte ein Gerät, ungeduldig, als hätte es etwas vergessen. Niemand sprach meinen Namen. Ich lag da, winzig, zwischen Kabeln und kaltem Glas, und wusste nichts von der Welt, die draußen auf mich wartete. Später erzählten sie mir, man hätte geglaubt, ich würde es nicht schaffen. Vielleicht hatte ich es damals schon verstanden: dass man sich von Anfang an nicht sicher sein kann, ob man bleiben darf. Und dass man vieles einfach allein machen muss.

Der Morgen kam ohne Farbe. Ein Tag ohne Richtung. Über den Feldern hing Nebel, so dicht, dass die Bäume am Horizont nur schemenhaft zu sehen waren. Auf dem Dach eines alten Hofes saßen Krähen, schwarz gegen Grau. Bewegungslos. Reglos. Der Wind kam aus Westen und trug feine Tropfen mit sich. Kaum spürbar, aber kalt genug, um durch die Jacke zu kriechen. Auf den Straßen lag Laub, flach gedrückt, glänzend vom Regen. Ein in die Jahre gekommener Lieferwagen fuhr vorbei, das Licht seiner Scheinwerfer flackerte im Dunst. Und irgendwie erkannte ich mich darin. Hinter den Weiden zog sich ein schmaler Pfad den Hang hinauf. Dort wuchs Farn, längst braun geworden. Dazwischen lagen moosigen Steine. An manchen Stellen feucht und glatt wie junge Haut. Der Bach neben dem Weg hatte das Wasser der vergangenen Tage aufgenommen. Er floss schnell, trug kleine Äste mit, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte. Vom Dorf her roch es nach Holzrauch. Aus einem Schornstein stieg eine dünne Fahne auf und verlor sich einfach im einheitlichen Grau. Weiter hinten ging eine ältere Frau mit einem Eimer über den Hof. Gleich daneben bellte ein Hund. Einmal. Zweimal. Seine Pfoten würden Spuren im Matsch hinterlassen, dachte ich mir. Obwohl alles in Bewegung war, gab es hier keine Eile. Herbst. Die Zeit hatte einen langsameren Gang angenommen. Die Welt war leiser geworden. Und selbst die Gedanken begannen zu flüstern.

Ich ging weiter den Weg hinauf. Dorthin, wo der Nebel dichter wurde. Unter den Schuhen knirschten kleine Steine. Hier roch der Wind nach Erde. Nach Holz. Nach etwas Altem, das langsam vergeht. Ich blieb kurz stehen, hörte dem Bach zu. Er klang, als würde er Geschichten erzählen, die niemand mehr kennt. Vielleicht war das der Grund, warum ich hier war, weil es manchmal Orte gibt, an denen man sich selbst leiser hört. Am Waldrand lag ein umgestürzter Baum. Wahrscheinlich von einem der längst vergessenen Stürme. Das Moos hatte seine Rinde fast ganz verschluckt. Ich legte die Hand darauf. Kalt. Feucht. Und für einen Moment dachte ich an all das, was bleibt, wenn etwas endet. Und daran, wie oft man glaubt, etwas sei vorbei, obwohl es einfach nur still geworden ist.

Ich blieb länger stehen, als ich eigentlich wollte. Der feine Regen hatte nachgelassen. Nur das Tropfen von den Ästen blieb. Ich glaubte, in der Ferne einen Zug zu hören. Ein Klang gedämpft durch die Hügel. Und für einen Moment dachte ich daran, wie es wäre, einfach weiterzugehen, immer weiter, bis der Nebel sich lichtete oder ich irgendwo ankam, wo mich niemand kannte. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Vielleicht die Müdigkeit. Vielleicht die Gewohnheit, zurückzugehen, statt weiterzugehen. Ich zog die Hand von dem Stamm, wischte sie an der Hose ab und ging doch noch ein Stück weiter. Der Weg führte zwischen alten Buchen hindurch, deren Wurzeln wie Adern über den Boden liefen. Am Ende des Weges lag eine Lichtung. Kein besonderes Stück Land. Eigentlich nur Gras, ein paar Steine, eine Bank. Nichts, was wirklich erwähnenswert wäre. Und doch blieb ich, so wie jedes Mal, wenn ich hier vorbeikam. Es war still. Auf eine Art, die schwer zu beschreiben ist. Keine Leere, eher ein Gleichgewicht. Ich setzte mich, spürte das kalte Holz im Rücken und dachte an nichts Bestimmtes. Vielleicht war das der Grund, warum ich herkam. Weil dieser Ort die Dinge so ließ, wie sie waren. Ohne sie zu deuten. Ohne sie zu heilen. Ohne etwas zu erwarten.

Ich dachte an ihn. An diesen alten Mann, den es schon lange nicht mehr gibt. Ich war noch klein. Schwach. Oft allein. Er saß in seiner Küche. Auf dem Stuhl neben der alten Kochmaschine, die mit Torf geheizt wurde. Der Rauch zog langsam durch den Raum und mischte sich mit dem Geruch seiner Zigaretten. Er sprach mit mir, als wäre ich längst erwachsen, und erzählte Geschichten, die wohl nicht für Kinderohren bestimmt waren. Vom Krieg. Vom Hunger. Vom Warten. Er sagte einmal, Schmerz vergehe, wenn man ihm genug Zeit lässt. Und dass jede Dunkelheit irgendwann nachlässt, auch wenn sie sich nie ganz vertreiben lässt. Und einmal sah er mich an, blies den Rauch zur Seite und sagte: Torsten, das Einzige, was wirklich zählt, ist der nächste Schritt.

Ich habe den Satz nie vergessen. Manchmal denke ich, vielleicht hatte er recht. Vielleicht ist das alles, was man tun kann. Den nächsten Schritt gehen. Egal wohin.